München ehrte Sergiu Celibidache
Es gab und gibt nicht viele Künstler, die mit
dem nichtakademischen und eben darum so respektvollen Titel "Maestro" im
Bewußtsein der Öffentlichkeit leben. Es gibt aber noch weniger, die im gleichen
Atemzug auch mit ihrem Kosenamen in den Berichten und Kritiken der Medien
erscheinen. So wird gar oft innerhalb weniger Zeilen aus dem unnahbaren, fern
auf hohem Podium stehenden Maestro Sergiu Celibidache der so menschlich
fühlende, seine Ergriffenheit preisgebende Celi, der, neben dem
Konzertmeister stehend, die Beifallsstürme zuerst für sein Orchester und erst
dann für sich, dankend entgegennimmt.
Zum Coda-Auftakt eines bewegten Jahrhunderts
feiert die Musikwelt einen Künstler, dessen Auffassung von Kreation,
Interpretation und Musikvermarktung nicht nur einzigartig, sondern
bedauerlicherweise auch schwer verständlich für bereits streßsüchtige
Leistungsmenschen ist. Während wir rasend die Zeitenwenden überbrücken und
geschichtliche Ereignisse zum Alltagsgeschäft herabstufen, zieht Sergiu
Celibidache die Zügel straff an und gibt seinen Münchner Philharmonikern
ein
getragenes, auf Geist und Gemüt besänftigend wirkendes Tempo vor. Innere Einkehr
und Ruhe braucht der Mensch unserer hektischen Zeit. Er findet sie in Celis
Musik, in seiner Art, ein Orchester zu führen. Dabei muß dem Celibidache-Gegner
- wie jeder Star hat auch er seine Widersacher - zugestanden werden, daß dieser
heute so ruhig und weise wirkende Mann mit schneeweißer Mähne sich im
umgekehrten Verhältnis zum Accelerando-Tempo unseres Zeitgeistes entwickelt hat.
Seine einst gefürchtete Vitalität und Spontaneität veranlaßte den Solobratscher
der Münchner Philharmoniker zu der Aussage: "Manchmal ist er ja
erstaunlicherweise in der Lage, lauter zu brüllen als das ganze Orchester im
Fortissimo." Was mag das für ein Mensch sein, der einem jungen,
anerkennungsbedürftigen Hornisten schonungslos klar macht, daß sein Solo eher
eine "gepanzerte geflügelte Kuh" suggeriere, als eine zu veranschaulichende
"diebische Elster" (Rossini), der aber auch vor bereits voll konzentriertem
Orchester den Taktstock wieder senkt und seine Bewunderung für das hervorragende
Musizieren blutjunger Musiker der Orchesterakademie Schleswig-Holstein mit einer
zum Herzen führenden Handbewegung bekundet? Es ist bestimmt ein zweckloses
Unterfangen nach den Widersprüchen im Inneren dieses Mannes, der elf (11)
Sprachen spricht, alle 130 Musiker der Münchner Philharmoniker beim Namen nennt,
bis auf Begleitungen alles auswendig dirigiert, und den Zen-Buddhismus als
wichtigen Baustein seines Selbstbewußtseins betrachtet, zu suchen. Sie
sind aber allemal ein Anregungsfaktor, um auf die Vergangenheit des oft als Guru
bezeichneten Maestros Sergiu Celibidache neugierig zu sein.
Wann wurde Sergiu Celibidache geboren?
Das Rätselraten beginnt schon mit dem genauen Geburtstag des Maestros. Mein
Gott, der Mann lebt ja noch, also wird er es ja wissen. Die Musikkritiker und
Lexikographen sind sich allerdings uneinig. Im Musikführer "Musik des 20.
Jahrhunderts", Kiesel Verlag, 1985, wird als Celibidaches Geburtstag der
28. Juni 1912 angegeben. Das gleiche Datum ist in Ausgaben des DONAU KURIER (vom
15./16.2.'92, 2.6.'92 und 29.6.'92) und der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (vom
27./28.6.'92 und 29.6.'92) zu entnehmen oder abzuleiten, während der DONAU
KURIER vom 2. April 1992 den 11. Juli 1912 als Tag von Celibidaches Geburt
angibt. Der gleichen Meinung ist auch der Schriftsteller Klaus Weiler in
einem im Jahrbuch der Münchner Philharmoniker (1988/89) veröffentlichten Essay
über Sergiu Celibidache. Das rumänische Wochenblatt EXPRES MAGAZIN gibt
wiederum den 28. Juni als Celis Geburtstag an. Auf diesen Tag waren auch
die Festlichkeiten in München zum 80. Geburtstag des Maestros angelegt.
Unbestritten bleibt der Geburtsort: die rumänische Stadt Roman. Celibidache
lebte und lernte die ersten 24 Jahre seines Lebens in Jassy, Bukarest und Paris.
Als er 1936 nach Berlin kam, setzte er seine
Mathematik-, Philosophie- und Musikstudien an der Musikhochschule und an der
Friedrich-Wilhems-Universität fort. Am 29. August 1945 dirigierte Celibidache
zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker. Wilhelm Furtwängler
und Herbert von Karajan hatten Berlin vor Kriegsende verlassen und
warteten im Ausland auf ihre Entnazifizierung. Celibidache wurde als ein
vom Himmel gesandter Retter in der zerstörten Stadt gefeiert. Er war der erste
Künstler des Landes, der eine Lizenz von den Alliierten für alle vier
Besatzungszonen bekommen hat. Als Musiker war Celibidache die
unumstrittene und überschwänglich gefeierte Nr. 1 in Berlin. Seine menschliche
Seite betrachtend, muß man ihm heute noch seinen persönlichen Einsatz für die
Entnazifizierung Furtwänglers hoch anrechnen. Im Winter 1946/47 entwarfen
Furtwängler und Celibidache gemeinsam eine Entlastungsstrategie,
die schließlich zum Erfolg führte und den Berliner Philharmonikern ihren
langjährigen Chefdirigenten Furtwängler wieder zurückbrachte. Bis 1952
war Celibidache der Leiter des Orchesters und Furtwängler stets
umjubelter Gastdirigent auf Konzertreisen der Philharmoniker. Dann tauschte man
die Rollen. Furtwängler wurde zum ständigen Dirigenten auf Lebenszeit
gewählt und Celibidache blieb durch mehrere Gastkonzerte pro Jahr dem
Orchester verbunden. Am 30. November 1954 starb Wilhelm Furtwängler, aber
nicht Sergiu Celibidache wurde, wie es der Logik der eben verstrichenen
neun Nachkriegsjahre entsprochen hätte, zum Nachfolger erkoren, sondern
Herbert von Karajan. Und Celibidache ging, um erst nach fast 38
Jahren am 31. März 1992 mit Anton Bruckners siebter Symphonie ans Pult
der Berliner Philharmoniker zurückzukehren und mit dem Benefizkonzert zugunsten
rumänischer Kinderheime einen fantastischen Triumph zu feiern. Wie ein Komet war
er in der Berliner Musikszene aufgetaucht und wieder verschwunden.
Celibidaches Wirkungskreis wurde nach Berlin so groß, daß Karajans
Schatten ihn eigentlich nie erreichen konnte. Von Skandinavien, über Italien,
Frankreich, Deutschland, England, Südamerika bis Israel war Celi stets
ein gefeierter Star.
Seit 1979 ist Celibidache
Generalmusikdirektor der Stadt München und Chefdirigent der Münchner
Philharmoniker. Seine Weltanschauung, Musikauffassung und sein Arbeitsstil
haben seither dieses Orchester geprägt und zu Weltruhm geführt. "Der Ton ist
noch keine Musik, er kann zu Musik werden . ... Eine Probe ist eine Summe von
unzähligen Nein. Es gibt Millionen von Nein und nur ein einziges Ja. ... Musik
dauert nicht." Diese Worte Celibidaches sagen viel über den Sinn der
intensiven Proben mit seinem Orchester aus. Seine Bruckner-Aufführungen werden
mittlerweile rund um den Globus als einmalige Musikerlebnisse gefeiert. Man muß
aber live dabei sein, denn, wenn Musik nicht dauert, ist sie für Celi auch nicht
konservierbar, also auf Tonträger nicht verbannbar. Es wird wohl auch in Zukunft
keine Studioaufnahmen unter Celibidaches Stabführung geben. Wenn er
dirigiert, schafft er nur "Bedingungen, unter denen Musik entstehen kann". Und
die sind einzigartig. Das gleiche Werk in einem anderen Konzertsaal, in einer
anderen Zeit kann nicht dasselbe Hörerlebnis vermitteln. Es ermöglicht ein
völlig anderes Musikempfinden. "Die Entsprechung zwischen Klang und innerem
Leben des Menschen macht Musik möglich." Weder Klang noch inneres Leben sind
dauerhaft. Sie müssen immer von neuem zusammenfinden. Celibidache will
zurück zur Natur. Er kämpft mit zwar weiser Zeitökonomie, aber trotzdem
jugendlich wirkender Kraft für die Rettung der wahren Musik vor dem Klangbetrug
der Studioelektronik. Wer wahre Musik liebt, kann dem Maestro gar nicht genug
Durchhaltevermögen für die Zukunft wünschen.
"Hinaus und fort nach immer neuen Siegen, /
Solang der Jugend Feuerpulse fliegen!" Diese Verse Nikolaus Lenaus stehen
als Programmvorspruch auf der Partitur der Tondichtung für großes Orchester "Don
Juan" von Richard Strauss. Celibidache nahm dieses Werk in der
Konzertsaison 1988/89 mit nach Amerika, auf eben den Kontinent, auf dem
Lenaus Versuch scheiterte, materielle Sicherheit für sein geistiges Schaffen
zu finden. In der CHICAGO SUN TIMES war zu einer Don-Juan-Aufführung zu lesen:
"Dann war da deutsche Musik, Strauss' vielgespielter 'Don Juan' in einer
Darstellung, die die meisten anderen Wiedergaben dieser Partitur schnell, glatt,
unflexibel und ohne Sinnlichkeit erscheinen lässt. Das war der wahre Don Juan
des Gedichts von Nikolaus Lenau."
Niemand hat so eindrucksvoll wie der Maestro
aus Osteuropa deutsche Musik in allen Konzertmetropolen dieser Erde gestaltet.
Was könnte uns über die unsichtbaren Wellenlängen von Geist und Gemüt mit diesem
Mann verbinden? Vielleicht sind es die gleichen Schicksalsempfindungen, mit
denen Menschen leben, wenn sie ihre Heimat verlassen haben, um nie oder nur als
Gast wiederzukehren. In einer astrologischen Durchleuchtung der Persönlichkeit
des Maestros ist auch Folgendes festgehalten: "Gleichzeitig ist die Position von
drei Planeten und der Sonne in IX der deutliche Hinweis, daß dieser Lebenserfolg
für Celibidache nur im Ausland (Bereich IX) möglich war."
Ein großer Dirigent und Pädagoge - allerdings
nicht im traditionellen Sinn von Erziehung, sondern als Kunstvermittler mit
eigenen originellen Methoden - wurde 80 Jahre alt. Von seiner Persönlichkeit
geht aber nach wie vor eine ungebrochene Faszination aus. Bernd Maltry,
Sohn eines Banater Schwaben, erfolgreicher Dirigent und Dozent, der
Celibidaches Dirigentenkurse besucht hat, sagte mir hinter verschmitztem und
deutbarem Lächeln: "Ich bin als Celibidaches Schüler immer voll
inspiriert nach Hause gegangen." Celi wird auch weiterhin unsere
Phantasie anregen. Darum sei im Reigen der vielsprachigen Glückwünsche auch
unsererseits ein herzliches "La mulţi ani!" ausgesprochen.
Sergiu Celibidache wurde anläßlich seines
Geburtstages zum Ehrenbürger der Stadt München ernannt und bekam das "Große
Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland"
verliehen.
Mark Jahr
aus DER
DONAUSCHWABE,
Aalen,
1. November 1992
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