Montag, 21. Januar 2013

Jahrmarkt - Jahrmarkt - Jahrmarkt

NBZ-Dorfchronik '78
Eine magere Weide links der Landstraße, grüne Weizenfelder rechts - das war bis vor etwa zehn Jahren das Bild, das sich dem Besucher zu dieser Jahreszeit vor der Einfahrt in die Gemeinde Jahrmarkt bot. Nichts Besonderes also im Vergleich zu den anderen Ortschaften der Banater Hecke; auch was die Dorflage auf dem Hang und der rotbraune Waldboden anbelangt. Und doch war und ist diese Großgemeinde im Banat und darüber hinaus gut bekannt. Hier gibt es den in die Geschichte eingegangenen Prinz-Eugen-Brunnen, die meisten Maurer, Zimmerleute und Musikanten sowie eine sehr reiche Kulturtradition.
In dem vormals kinderreichen Kleinbauern- und Winzerdorf, in dem auch heute noch viele ältere Frauen die schwäbische Tracht tragen und das nur einen Katzensprung (13 Kilometer) von Temeswar entfernt liegt, haben in der Zeit der raschen Industrieentwicklung nach der Jahrhundertwende und dann insbesondere in den Aufbauperioden nach den Weltkriegen tiefgreifende Veränderungen stattgefunden. Der* Arbeitsmarkt bestimmte ausschlaggebend die Berufswahl. Sie (die Jahrmarkter*) wurden vor allem Baufachleute und waren in den Nachkriegsjahren beispielsweise nicht nur auf allen Temeswarer Baustellen anzutreffen, sondern auf allen Großbaustellen im Banat und von Kalan, Hunedoara, Craiova, Bukarest, Galatz bis Konstanza. Obwohl gegenwärtig sehr viele Jahrmarkter in Fabriken arbeiten und die jüngere Generation technische Berufe bevorzugt, gibt es auch heute noch rund 300 Maurer und Zimmerleute in dem Gemeindezentrum, das im Kreis Temesch die größte Pendlerzahl aufweist.
So wie Baufachleute gibt es seit vielen Jahrzehnten in jedem zweiten, dritten Haus auch Musikanten, bedingt von der langjährigen, regen Anteilnahme der Bewohner am kulturellen Leben im Ort und im ganzen Banat. Organisiertes Musik- und Gesangsvereinsleben ist dokumentarisch seit dem 19. Jahrhundert belegt. Im Dorf musizierten* mehrere Kapellen, in den 60ger Jahren waren es sogar vier. Die Musikkonkurrenz, die auch schlechte Seiten hat, und im Dorfleben manchen Ärger verursachte, hat es aber bewirkt, dass die Musikdarbietungen von hoher Qualität sind, dass das Repertoire reicher und anspruchsvoller ist, von "Blechmusik" bis "Egmont" und Jazz reicht, und dass zurzeit die Kapellen Loris und Kaszner zu den besten Dorforchestern zählen. Die Loris-Kapelle, über die kürzlich ein Farbfilm gedreht wurde, feiert Anfang August dieses Jahres ihr 70jähriges Bestehen. Ihr Leiter, Prof. Matthias Loris, führt den Dirigentenstab als Vertreter der vierten Generation dieser Familie. Der I. Preis beim Landesfestival "Cîntarea României" 1977 für die Blaskapelle und der III. für das Unterhaltungsmusikorchester waren eine verdiente Krönung der Tätigkeit der Loris-Musiker. Verfolgt man das banatschwäbische Kulturleben, so ist ersichtlich, dass Jahrmarkt nicht nur im Bereich Musik ganz vorne liegt. Unter der Leitung von Kulturheimdirektor Hans Speck und einer Gruppe Lehrkräfte wurde hier 1971 ein herausragendes, unvergessliches Trachtenfest veranstaltet, und zwei Jahre später in einem Bauernhaus in der "Alt-Gass" ein Dorfmuseum eingerichtet. Im Kulturheim wurden Theaterstücke von Hans Kehrer, Peter Riesz u.a. erstaufgeführt, beim Auftritt der Schwaben-Show im Jahrmarkter Park zählte man 2.000 Zuschauer und das erste Ausland-Dorfgastspiel des Weimarer Nationaltheaters fand nicht zufällig auch in Jahrmarkt statt.
Der Wandel in der Ortschaft, vor allem in den letzten 15 Jahren, ist auffallend. Die linke Seite der Asphaltstraße säumt jetzt, wie eine Kette, eine Reihe neuer, moderner Bauten für industriemäßige Geflügelzucht. Millionen Eier werden hier jährlich für den Export - bis in den Fernen und Nahen Osten - und dem Binnenmark geliefert. Das Bahngleis, das vor der Dorfeinfahrt die Landstraße nach Lippa überquert, musste verdoppelt werden,. Nicht nur wegen der vor  zwei Jahren errichteten Eisfabrik, sondern vor allem wegen des Transports von Tausenden Tonnen Obst - Tafeltrauben, Pfirsichen, Kirschen, Quitten, Erdbeeren - und dem Getreide, das der SLB liefert, der unter der langjährigen Leitung von Dipl.-Ing. Nicolae Dogaru, Held der Sozialistischen Arbeit, wiederholt als spartenbeste Einheit ausgezeichnet wurde.
Strand in Jahrmarkt
Foto: Oskar Renke, 1996
Jahrmarkt hat auch einen Strand, der nicht allein bei den Ortseinwohnern beliebt ist. Mit dem modernen Becken und dem Handballplatz kam hier eine Sport und Erholungsanlage zustande, die sich kaum jemand so vorstellte, als Tischlermeister Peter Oberle, der mit seiner Mannschaft auch viel bei der Einrichtung des Heimatmuseums geholfen hat, den Vorschlag dafür unterbreitet hatte. Die aufgeschlossene Gemeindeleitung stimmte zu. Die Schule, die Lehrkräfte, halfen auch hier eifrig mit, und so wurden Museum und Strand nicht nur beispielhafte Verwirklichungen, sondern das Werk der ganzen Dorfgemeinschaft, auf das nun alle berechtigt stolz sind.
Im Hof der alten Schule entstand ein neues Schulgebäude, das alte wurde inzwischen derart umgestaltet, dass es als neue alte Schule bezeichnet werden kann. Aus dieser Schule kommen viele Impulse für das gesamte Gemeinschaftsleben. Lehrkräfte wie Hans Speck, das Ehepaar Katharina und Josef Schäffer u.a. sind unermüdliche Förderer der deutschsprachigen Kultur- und Traditionspflege. Im wesentlichen ist die gesamte Entwicklung des Dorfes eigentlich ein Spiegelbild der Schule und ihrer Leistungen, ein Bild, in dem jedem, der Jahrmarkt etwa zehn Jahre nicht besucht hat, das neue Aussehen der Straßen und Häuser unbedingt auffallen wird. Nahezu die Hälfte aller Häuser wurde umgestaltet, zumindest das "Gesicht", der Giebel, und das Dach. Zehn stockhohe Häuser gibt es bereits, erfuhren wir im Gespräch mit Bürgermeister Traian Meşter und seinem Stellvertreter Josef Wagner.
Ein Gesamtbild all dieser Verwirklichungen, des Lebens und Schaffens in diesem Dorf mit der größten Anzahl deutscher Einwohner im Kreis Temesch, will der Sahia-Farbfilm werden, der über die Kerweitage gedreht wurde. Er soll im Herbst im Jahrmarkter Kulturheim erstaufgeführt werden.
Luzian Geier
(*Anmerkung des Gestalters dieses Blogs: Die Kursiv-Stellen im Text wurden von mir sinngemäß eingeführt, da der benutzte Zeitungsabriss im wahrsten Sinne des Wortes eingerissen war. )

aus NEUE BANATER ZEITUNG, Temeswar, 11. Juni 1978


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