NBZ-Dorfchronik '78
Eine
magere Weide links der Landstraße, grüne Weizenfelder rechts - das war bis vor
etwa zehn Jahren das Bild, das sich dem Besucher zu dieser Jahreszeit vor der
Einfahrt in die Gemeinde Jahrmarkt bot. Nichts Besonderes also im Vergleich zu
den anderen Ortschaften der Banater Hecke; auch was die Dorflage auf dem Hang
und der rotbraune Waldboden anbelangt. Und doch war und ist diese Großgemeinde
im Banat und darüber hinaus gut bekannt. Hier gibt es den in die Geschichte
eingegangenen Prinz-Eugen-Brunnen, die meisten Maurer, Zimmerleute und
Musikanten sowie eine sehr reiche Kulturtradition.
In dem
vormals kinderreichen Kleinbauern- und Winzerdorf, in dem auch heute noch viele
ältere Frauen die schwäbische Tracht tragen und das nur einen Katzensprung (13
Kilometer) von Temeswar entfernt liegt, haben in der Zeit der raschen
Industrieentwicklung nach der Jahrhundertwende und dann insbesondere in den
Aufbauperioden nach den Weltkriegen tiefgreifende Veränderungen
stattgefunden. Der* Arbeitsmarkt bestimmte ausschlaggebend die Berufswahl.
Sie (die Jahrmarkter*) wurden vor allem Baufachleute und waren in den
Nachkriegsjahren beispielsweise nicht nur auf allen Temeswarer Baustellen
anzutreffen, sondern auf allen Großbaustellen im Banat und von Kalan, Hunedoara,
Craiova, Bukarest, Galatz bis Konstanza. Obwohl gegenwärtig sehr viele
Jahrmarkter in Fabriken arbeiten und die jüngere Generation technische Berufe
bevorzugt, gibt es auch heute noch rund 300 Maurer und Zimmerleute in dem
Gemeindezentrum, das im Kreis Temesch die größte Pendlerzahl aufweist.
So wie
Baufachleute gibt es seit vielen Jahrzehnten in jedem zweiten, dritten Haus auch
Musikanten, bedingt von der langjährigen, regen Anteilnahme der Bewohner am
kulturellen Leben im Ort und im ganzen Banat. Organisiertes Musik- und
Gesangsvereinsleben ist dokumentarisch seit dem 19. Jahrhundert belegt. Im
Dorf musizierten* mehrere Kapellen, in den 60ger Jahren waren es sogar vier.
Die Musikkonkurrenz, die auch schlechte Seiten hat, und im Dorfleben manchen
Ärger verursachte, hat es aber bewirkt, dass die Musikdarbietungen von hoher
Qualität sind, dass das Repertoire reicher und anspruchsvoller ist, von
"Blechmusik" bis "Egmont" und Jazz reicht, und dass zurzeit
die Kapellen Loris und Kaszner
zu den besten Dorforchestern zählen. Die Loris-Kapelle,
über die kürzlich ein Farbfilm gedreht wurde, feiert Anfang August dieses Jahres
ihr 70jähriges Bestehen. Ihr Leiter, Prof. Matthias
Loris, führt den Dirigentenstab als Vertreter der vierten Generation
dieser Familie. Der I. Preis beim Landesfestival "Cîntarea României"
1977 für die Blaskapelle und der III. für das Unterhaltungsmusikorchester
waren eine verdiente Krönung der Tätigkeit der Loris-Musiker.
Verfolgt man das banatschwäbische Kulturleben, so ist ersichtlich, dass
Jahrmarkt nicht nur im Bereich Musik ganz vorne liegt. Unter der Leitung von
Kulturheimdirektor Hans Speck und einer Gruppe Lehrkräfte wurde hier
1971 ein herausragendes, unvergessliches Trachtenfest veranstaltet, und zwei
Jahre später in einem Bauernhaus in der "Alt-Gass" ein Dorfmuseum
eingerichtet. Im Kulturheim wurden Theaterstücke von Hans Kehrer, Peter
Riesz u.a. erstaufgeführt, beim Auftritt der Schwaben-Show im Jahrmarkter
Park zählte man 2.000 Zuschauer und das erste Ausland-Dorfgastspiel des
Weimarer Nationaltheaters fand nicht zufällig auch in Jahrmarkt statt.
Der Wandel
in der Ortschaft, vor allem in den letzten 15 Jahren, ist auffallend. Die linke
Seite der Asphaltstraße säumt jetzt, wie eine Kette, eine Reihe neuer,
moderner Bauten für industriemäßige Geflügelzucht. Millionen Eier werden
hier jährlich für den Export - bis in den Fernen und Nahen Osten - und dem
Binnenmark geliefert. Das Bahngleis, das vor der Dorfeinfahrt die Landstraße
nach Lippa überquert, musste verdoppelt werden,. Nicht nur wegen der vor
zwei Jahren errichteten Eisfabrik, sondern vor allem wegen des Transports von
Tausenden Tonnen Obst - Tafeltrauben, Pfirsichen, Kirschen, Quitten, Erdbeeren -
und dem Getreide, das der SLB liefert, der unter der langjährigen Leitung von
Dipl.-Ing. Nicolae Dogaru, Held der Sozialistischen Arbeit, wiederholt
als spartenbeste Einheit ausgezeichnet wurde.
Strand in Jahrmarkt Foto: Oskar Renke, 1996 |
Jahrmarkt hat auch einen Strand, der nicht allein bei den Ortseinwohnern beliebt ist. Mit dem modernen
Becken und dem Handballplatz kam hier eine Sport und Erholungsanlage
zustande, die sich kaum jemand so vorstellte, als Tischlermeister Peter
Oberle, der mit seiner Mannschaft auch viel bei der Einrichtung des
Heimatmuseums geholfen hat, den Vorschlag dafür unterbreitet hatte. Die
aufgeschlossene Gemeindeleitung stimmte zu. Die Schule, die Lehrkräfte, halfen
auch hier eifrig mit, und so wurden Museum und Strand nicht nur beispielhafte
Verwirklichungen, sondern das Werk der ganzen Dorfgemeinschaft, auf das nun alle
berechtigt stolz sind.
Im Hof der alten
Schule entstand ein neues Schulgebäude, das alte wurde inzwischen derart
umgestaltet, dass es als neue alte Schule bezeichnet werden kann. Aus dieser
Schule kommen viele Impulse für das gesamte Gemeinschaftsleben. Lehrkräfte wie
Hans Speck, das Ehepaar Katharina und Josef Schäffer u.a.
sind unermüdliche Förderer der deutschsprachigen Kultur- und Traditionspflege.
Im wesentlichen ist die gesamte Entwicklung des Dorfes eigentlich ein
Spiegelbild der Schule und ihrer Leistungen, ein Bild, in dem jedem, der
Jahrmarkt etwa zehn Jahre nicht besucht hat, das neue Aussehen der Straßen und
Häuser unbedingt auffallen wird. Nahezu die Hälfte aller Häuser wurde
umgestaltet, zumindest das "Gesicht", der Giebel, und das Dach. Zehn
stockhohe Häuser gibt es bereits, erfuhren wir im Gespräch mit Bürgermeister Traian
Meşter
und seinem Stellvertreter Josef Wagner.
Ein
Gesamtbild all dieser Verwirklichungen, des Lebens und Schaffens in diesem Dorf
mit der größten Anzahl deutscher Einwohner im Kreis Temesch, will der
Sahia-Farbfilm werden, der über die Kerweitage gedreht wurde. Er soll im Herbst
im Jahrmarkter Kulturheim erstaufgeführt werden.
Luzian
Geier
(*Anmerkung
des Gestalters dieses Blogs: Die Kursiv-Stellen im Text wurden von mir
sinngemäß eingeführt, da der benutzte Zeitungsabriss im wahrsten Sinne des
Wortes eingerissen war. )
aus NEUE
BANATER ZEITUNG, Temeswar, 11. Juni 1978
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