Dienstag, 6. Mai 2025

Auf anhaltender Suche nach Identität

 
Eleonora Pascu stellte kürzlich in ihrem Essay Franz Liebhard als Dramaturg (KR / 1. Juli 2000) das Pronomen „wir“ in dem Kontext „Banater Identität – multikultureller Raum“ dar. Unabhängig davon, ob dieser Begriffszusammenhang sich für den Einzelnen weniger im Mit- als mehr im Nebeneinander oder umgekehrt ausgewirkt hat, war er wirklich ein Identität stiftender Lebensfaktor. Das bewusste Dazugehören zu einer gewissen ethnischen Gruppe hieß, sich mit deren Traditionen, kultureller Gegenwart und Zukunftsperspektiven auseinandersetzen. Die Aktivitäten jeweils herausragender Persönlichkeiten aus Bereichen der Medien, Kultur, Politik und des Sports bündelten das zum Überleben so nötige Wir-Gefühl. Franz Liebhard war eine dieser Persönlichkeiten.
Wenn ich nun in der oben erwähnten Abhandlung weiter lese, dass zu einer „retrospektiven Betrachtung der Spielzeiten, in denen Franz Liebhard am DSTT als Dramaturg tätig gewesen ist“, auch „Pantomime und Lyrik mit Nikolaus Wolcz“ gehören, fällt es mir nicht schwer, über die Zeitlosigkeit eines einmal empfundenen Wir-Gefühls nachzudenken. Dies um so mehr, als ich soeben aus dem imposanten Innenhof des Ingolstädter „Turm Baur“, ein klassizistischer zirkularer Festungsbau am Donauufer, komme. Ich verfolgte dort die Freilichtaufführung des Schauspiels Der Glöckner von Notre-Dame und versuche jetzt, diese Inszenierung für die soeben begonnene Gedankenspirale zu instrumentalisieren.
Das Programm gibt Aufschluss über weitere Zusammenhänge. Der Glöckner von Notre-Dame nach Victor Hugo von Friedrich Schilha, so die Überschrift. Weiter erfährt man dann unter anderem: Regie - Nikolaus Wolcz, Claude Frollo – Friedrich Schilha, Hermine – Ursula Nussbächer, Klausnerin – Ursula Nussbächer, Inspizienz – Eleonore Schilha. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die geborene Kronstädterin Ursula Nussbächer (verheiratete Wolcz) hier unter ihrem Mädchennamen figuriert und Eeonore Schilhas Geburtsname Grün ist, müssten auch in den Programmheften des Deutschen Staatstheaters Temeswar aus den siebziger Jahren Hinweise auf diese vier Theaterleute (Grün, Nussbächer, Schilha und Wolcz) zu finden sein.
Ehemalige Schauspieler/innen aus dem Banat und Siebenbürgen wirken heute fern ihrer künstlerischen Urheimat. Ursula und Nikolaus Wolcz lehren an der Columbia University in New York während Eleonore und Friedrich Schilha am Theater Ingolstadt arbeiten. Diese Namen, gleichermaßen wie Franz Liebhard, Hans Kehrer, Franz Keller, Helga Sandhof, Hella Sessler u. v. a., können richtungsweisend für Menschen sein, die aus dem „multikulturellen Raum“ Banat stammen und irgendwo in der Welt auf dauernder (oft unbewusster und manchmal auch verdrängter) Suche nach Zeichen aus längst vergangener Zeit sind.
Wir“ war für viele Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben eine Selbstverständlichkeit, die keiner zusätzlichen Erläuterungen bedurfte. Heute hat dieses Pronomen im Gefühlsleben vieler Ausgesiedelter einen besonderen Stellenwert erlangt. Es gilt, „wir“ zur Rettung der von Uniformität bedrohten Identität einzusetzen. Das Wirken in Deutschland von Künstler/innen wie Schilha und Wolcz hat für die aus Rumänien gekommene Aussiedlergeneration eine Brückenfunktion zwischen Gestern und Heute. Wer sich nicht scheut, diese Brücke der Wehmut hie und da zu betreten, hat alle Chancen, das zu bleiben, was er schon immer war, nämlich Siebenbürger Sachse oder Banater Schwabe.
Mark Jahr

aus KARPATENRUNDSCHAU, Kronstadt, 12. August 2000

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