Dienstag, 4. Juni 2024

Endgültig angekommen

 Rück- und Ausblicke an der Grenze zum Jahr 2000

Ausgewannert“

Rück- und Ausblicke sind an Jahreswechseln üblich. Um wie viel mehr gewinnen sie aber an Bedeutung an Jahrhundertwenden? Inwiefern kann unser Verstand gar die überwältigende Bedeutung eines Millenniumswechsels in seiner ganzen Tragweite erfassen.
Das klingt nun wirklich nach gewaltigen Umbrüchen, von jedem Einzelnen spürbaren Veränderungen im Alltag. Dergleichen wird natürlich ebenso wenig geschehen, wie es in den Mittagsstunden des 11. August 1999 geschah, als der Michl mit seinem Mondtrabanten die Fluglinie Erde-Sonne durchquerte und uns eine Sonnenfinsternis bescherte, die wir, mit speziellen Brillen ausgestattet, live miterleben durften. Und weil wir uns schon auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend befinden, mag diese Rückbesinnung auch mit einer Sonnenfinsternis beginnen. Es war 1961, und unsere Großeltern wussten um die Gefährlichkeit dieser sengenden Strahlen, die unsere von kindlicher Neugierde gen Himmel gerichteten Augen schädigen konnten. Sie schwärzten für uns und wohl auch für sich Fensterglasscherben an oder sie stellten einen „Lawor“ mit quellklarem Wasser aus dem Hofbrunnen bereit und ermahnte uns: „Do musst ninschaue, noo siehst die Sunnefinsternis.“
Sie sind längst in die imaginären Räume jenseits aller Galaxien gezogen, unsere Omas und Opas, die meisten von ihnen über ihre Banater Gottesäcker. Sie hatten damals (1961) ihre paar Joch Feld schon „freiwillig“ in die Kollektivwirtschaft eingebracht und waren nun mehr als eine nur von national-konservativen Werten – für einen in der Diaspora lebenden Volksstamm waren diese Werte lebenswichtig – geprägte Gemeinschaft. Sie waren ab dato auch durch materielles „Gemeinschaftseigentum“ auf Gedeih und Verderb aneinandergeschmiedet.
Diese durften schon bald das Verderben der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auskosten, was wesentlich zur radikalen Dezimierung der deutschen Volksstämme in Rumänien beitrug. Wir, die heute 30- bis 50-Jährigen, sind wohl die letzten Repräsentanten dieser Volksstämme, die jetzt außerhalb ihrer angestammten Heimat leben und sich uneingeschränkt zu ihren kulturellen Werten bekennen. (Bedauernswerte Ausnahmen bestätigen diese Regel.) Das mag für einige erschreckend, für andere übertrieben, vielleicht zu pathetisch formuliert sein oder aber auch als nostalgischer Klamauk aufgefasst werden. Tatsache ist, dass von den vielen Faktoren, die das Überleben eines Volksstammes gewährleisten, der geografische Bezugspunkt eminent wichtig zu sein scheint. Wir Banater Schwaben haben diesen Bezugspunkt, wie viele Millionen Vertriebene und Aussiedler anderer deutscher Volksstämme auch, für immer verloren, beziehungsweise aufgegeben. Das ist die uns am meisten prägende Tatsache des ausklingenden Jahrhunderts. Die von Tag zu Tag schrumpfende Erlebnisgeneration trägt Erlebtes und (besonders die Älteren) „Überlebtes“ in sich. Wir werden dieses Wissen konservieren müssen, wie man es in Ulm zur Zeit versucht.

Eingebürgert

Es gibt keine Stunde null, auch heute nicht“, schrieb der Journalist Gunter Hofmann anlässlich des Regierungsumzuges nach Berlin (DIE ZEIT, 26. August 1999). Es gab sie wirklich nie, die viel zitierte Stunde null, selbst nach 1945 nicht, auch nach den blutigen Weihnachten 1989 in Rumänien nicht und auch heuer nach dem Umzug in Deutschland nicht.
Es gibt immer eine Kontinuität, ein Weiterwirken lebenshungriger Kräfte, die Mitgebrachtes integrieren oder aufbewahren, wirklich Unbrauchbares (welche Zeit hatte davon nicht mehr als genug?) aber zum Sperrmüll werfen. Was wir nicht entsorgen können, sind unsere Erinnerungen. In ihnen tauchen auch heute noch schemenhaft die diabolisch lächelnden Fratzen des Diktator-Ehepaares auf; gefürchtet, verhasst und jetzt, im Nachhinein, auch mit einem Schuss Neugierde bedacht. Wer waren diese zwei Gestalten wirklich? Haben sie uns tatsächlich als letzte Sklaven des ausklingenden Millenniums verkauft? Ja!
Helmuth Kohl (l.) &
Ulrich Wickert
Screenshot: Anton Potche
Wir wissen es längst, und Männer, die uns „auslösten“, brechen zu diesem traurigen Kapitel des Kalten Krieges dankenswerterweise ihr Schweigen. Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl erzählte dem Fernsehjournalisten Ulrich Wickert von seinen Erfahrungen mit dem Ehepaar Ceaușescu (BR-alpha, 3. Oktober 1999): „Ich muss sagen – warum soll ich‘s nicht sagen? - , als ich eines abends dann im Fernsehen die Bilder sah, wie er tot vor diesem Dorfschulgebäude lag mit seiner Frau, da hab‘ ich aber wirklich null Mitleid empfunden. Ich habe zwei- oder dreimal mit ihm verhandelt und es gehört zu den barbarischsten Erinnerungen. […] Eine besondere Szene mal in meinem Zimmer im Kanzleramt: Sie saß direkt gegenüber und er daneben. Sie hat auch dauernd reingeredet. […] Und dann haben wir gefeilscht um die Kosten für Menschen. […] Leute mit Abitur – zahlen wir so viel, Leute mit Studium – zahlen wir so viel. […] Wir haben‘s getan und wir haben Geld ausgegeben und ich steh‘ auch heute noch dazu. Aber die Gier, mit der die zwei das betrieben haben, gehört zu dem Entsetzlichsten. […] Diese zwei waren eine wirkliche Heimsuchung der Menschheit.“
Wieso konnte das alles geschehen? Die vorweihnachtliche Zeit der Besinnung hat uns im letzten Dezember, zehn Jahre nach dem Sturz der Diktatur in Rumänien, bestimmt öfter mit diesen und ähnlichen Fragen konfrontiert.
Eingebürgert? Und doch so viel Vergangenheit?“ Sie wird uns bei allen Bemühungen, unsere Gegenwart bewusst zu gestalten, wohl doch nie ganz abhanden kommen.
Günter Grass hat diese gleichzeitige Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mal mit „Vergangenkunft“ bezeichnet.
Die Regierungsfarben in Berlin werden sich in Zukunft in ihrem demokratischen Reigen weiter drehen, während wir in diesen Tagen getrost von der Endgültigkeit unserer Heimatfindung sprechen können. „Vergangenkunft“ könnte sie auch für uns heißen, diese Endgültigkeit, und sowohl als Schluss- als auch als Bindestrich empfunden werden. Zum Durchstreichen wird dieser auf jeden Fall zu kurz sein, denn in uns allen wird das Banat, wie jeder es erlebt hat, weit über die Jahrtausendwende hinaus fortleben.

Anton Potche

 aus BANATER  POST, München, 5. Januar 2000 


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