Rück- und Ausblicke an der Grenze zum Jahr 2000
„Ausgewannert“
Rück-
und Ausblicke sind an Jahreswechseln üblich. Um wie viel mehr
gewinnen sie aber an Bedeutung an Jahrhundertwenden? Inwiefern kann
unser Verstand gar die überwältigende Bedeutung eines
Millenniumswechsels in seiner ganzen Tragweite erfassen.
Das
klingt nun wirklich nach gewaltigen Umbrüchen, von jedem Einzelnen
spürbaren Veränderungen im Alltag. Dergleichen wird natürlich
ebenso wenig geschehen, wie es in den Mittagsstunden des 11. August
1999 geschah, als der Michl mit seinem Mondtrabanten die Fluglinie
Erde-Sonne durchquerte und uns eine Sonnenfinsternis bescherte, die
wir, mit speziellen Brillen ausgestattet, live miterleben durften.
Und weil wir uns schon auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend
befinden, mag diese Rückbesinnung auch mit einer Sonnenfinsternis
beginnen. Es war 1961, und unsere Großeltern wussten um die
Gefährlichkeit dieser sengenden Strahlen, die unsere von kindlicher
Neugierde gen Himmel gerichteten Augen schädigen konnten. Sie
schwärzten für uns und wohl auch für sich Fensterglasscherben an
oder sie stellten einen „Lawor“ mit quellklarem Wasser aus dem
Hofbrunnen bereit und ermahnte uns: „Do musst ninschaue, noo siehst
die Sunnefinsternis.“
Sie
sind längst in die imaginären Räume jenseits aller Galaxien
gezogen, unsere Omas und Opas, die meisten von ihnen über ihre
Banater Gottesäcker. Sie hatten damals (1961) ihre paar Joch Feld
schon „freiwillig“ in die Kollektivwirtschaft eingebracht und
waren nun mehr als eine nur von national-konservativen Werten – für
einen in der Diaspora lebenden Volksstamm waren diese Werte
lebenswichtig – geprägte Gemeinschaft. Sie waren ab dato auch
durch materielles „Gemeinschaftseigentum“ auf Gedeih und Verderb
aneinandergeschmiedet.
Diese
durften schon bald das Verderben der sozialistischen Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung auskosten, was wesentlich zur radikalen
Dezimierung der deutschen Volksstämme in Rumänien beitrug. Wir, die
heute 30- bis 50-Jährigen, sind wohl die letzten Repräsentanten
dieser Volksstämme, die jetzt außerhalb ihrer angestammten Heimat
leben und sich uneingeschränkt zu ihren kulturellen Werten bekennen.
(Bedauernswerte Ausnahmen bestätigen diese Regel.) Das mag für
einige erschreckend, für andere übertrieben, vielleicht zu
pathetisch formuliert sein oder aber auch als nostalgischer Klamauk
aufgefasst werden. Tatsache ist, dass von den vielen Faktoren, die
das Überleben eines Volksstammes gewährleisten, der geografische
Bezugspunkt eminent wichtig zu sein scheint. Wir Banater Schwaben
haben diesen Bezugspunkt, wie viele Millionen Vertriebene und
Aussiedler anderer deutscher Volksstämme auch, für immer verloren,
beziehungsweise aufgegeben. Das ist die uns am meisten prägende
Tatsache des ausklingenden Jahrhunderts. Die von Tag zu Tag
schrumpfende Erlebnisgeneration trägt Erlebtes und (besonders die
Älteren) „Überlebtes“ in sich. Wir werden dieses Wissen
konservieren müssen, wie man es in Ulm zur Zeit versucht.
Eingebürgert
„Es
gibt keine Stunde null, auch heute nicht“, schrieb der Journalist
Gunter Hofmann
anlässlich des Regierungsumzuges nach Berlin (DIE ZEIT, 26. August
1999). Es gab sie wirklich nie, die viel zitierte Stunde null, selbst
nach 1945 nicht, auch nach den blutigen Weihnachten 1989 in Rumänien
nicht und auch heuer nach dem Umzug in Deutschland nicht.
Es
gibt immer eine Kontinuität, ein Weiterwirken lebenshungriger
Kräfte, die Mitgebrachtes integrieren oder aufbewahren, wirklich
Unbrauchbares (welche Zeit hatte davon nicht mehr als genug?) aber
zum Sperrmüll werfen. Was
wir nicht entsorgen können, sind unsere Erinnerungen. In ihnen
tauchen auch heute noch schemenhaft die diabolisch lächelnden
Fratzen des Diktator-Ehepaares auf; gefürchtet, verhasst und jetzt,
im Nachhinein, auch mit einem Schuss Neugierde bedacht. Wer waren
diese zwei Gestalten wirklich? Haben sie uns tatsächlich als letzte
Sklaven des ausklingenden Millenniums verkauft? Ja!
Helmuth Kohl (l.) & Ulrich Wickert Screenshot: Anton Potche |
Wieso
konnte das alles geschehen? Die vorweihnachtliche Zeit der Besinnung hat
uns im letzten Dezember, zehn Jahre nach dem Sturz der Diktatur in
Rumänien, bestimmt öfter mit diesen und ähnlichen Fragen
konfrontiert.
„Eingebürgert?
Und doch so viel Vergangenheit?“ Sie wird uns bei allen Bemühungen,
unsere Gegenwart bewusst zu gestalten, wohl doch nie ganz abhanden
kommen.
Günter
Grass hat diese gleichzeitige Wahrnehmung von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft mal mit „Vergangenkunft“ bezeichnet.
Die
Regierungsfarben in Berlin werden sich in Zukunft in ihrem
demokratischen Reigen weiter drehen, während wir in diesen Tagen
getrost von der Endgültigkeit unserer Heimatfindung sprechen können.
„Vergangenkunft“ könnte sie auch für uns heißen, diese
Endgültigkeit, und sowohl als Schluss- als auch als Bindestrich
empfunden werden. Zum Durchstreichen wird dieser auf jeden Fall zu
kurz sein, denn in uns allen wird das Banat, wie jeder es erlebt hat,
weit über die Jahrtausendwende hinaus fortleben.
Anton Potche
aus BANATER POST, München, 5. Januar 2000
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