Donnerstag, 2. Juni 2022

Generalabrechnung dient niemandem

Zu den Artikeln Historiker über Walsers Tabubruch entzweit: Nur eine Stammtischwolke? und Waffenstillstand zwischen Bubis und Dohnanyi im Streit um Walser-Rede in den Ausgaben vom 8. und 9. Dezember:
Während der Rede Martin Walsers und noch einige Stunden danach, beim Nachdenken über das soeben Gehörte, fiel mir nichts Anstößiges auf. Bis dann Herr Bubis auf den Plan trat. Und was bewirkte sein Antisemitismus-Vorwurf (an Walser) bei mir, einem Mittvierziger? Er warf lediglich alte Fragen neu auf: War mein Großvater, auf dessen eisenbeschlagenen Holzfüßen ich die ersten Rollstuhlfahrten (noch bevor ich richtig laufen konnte) in den Hausgarten – das war „die Welt“, die der Krieg ihm gelassen hatte – erlebnishungrig genoß, ein Antisemit; oder war es mein anderer Großvater, den ich nie kannte, weil er unweit von Stalingrad ins Graß biß; oder war es mein alter Nachbar, der angeblich in einem Konzentrationslager Wache schieben mußte; oder ist es gar der Überlebende aus meinem Bekannten- oder Verwandtenkreis, der heute noch seine jugendliche DJ- und HJ-Begeisterung mit dem damaligen Zeitgeist rechtfertigt?
Meine Kindheitserinnerungen an den erlebten Großvater und an den gutmütigen Nachbarn verbieten mir, dieses schreckliche Urteil über sie zu fällen. Und ich bin mir sicher, so oder ähnlich wird es Tausenden in unserem Land gehen, wenn sie die ausgelöste Debatte auf die jeweils eigene Familienbiographie übertragen.
Wir sollten jetzt, an den angebrochenen Tagen des Besinnens und des Zuhörens unsere damals betroffenen und zum Teil vielleicht auch mitschuldigen Eltern und Großeltern mit der gebotenen Behutsamkeit zum Erzählen anregen. So mancher der älteren Generation könnte es als Erleichterung empfinden, das damalige Mitmachen oder nur Wegschauen als Fehler zuzugeben, und wir Nachkriegsgeborenen könnten diese Einsichten als wertvolle Wegbegleiter mit ins nächste Jahrhundert nehmen, damit Geschehenes auch solches bleibt.

Nur in einer Entflechtung hat diese Debatte noch Sinn. Als Generalabrechnung zwischen zwei Völkern dient sie, so wie Herr Bubis sie jetzt führt und die FDP sie politisch auch noch zur Selbstdarstellung mißbraucht, niemand, weder den Juden noch den Deutschen. Wie dieser Entflechtungsprozess letztendlich aussehen kann, hängt von jedem einzelnen Bürger, dem etwas an der Geschichte seines Landes liegt, selbst ab. Schuldzuweisungen à la Bubis haben allerdings darin nichts verloren. Sie sind dem Gedenken an das himmelschreiende Unrecht, das Deutsche dem Volk der Juden zugefügt haben, nur abträglich und rufen viel eher als Walsers Tabubrüche rechtsradikale Trotzreaktionen hervor.

Anton Potche

aus DONAUKURIER, Ingolstadt, 15. Dezember1998

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