Dienstag, 29. Juni 2021

Gedanken nach einem hochklassigen Konzertabend

Ernüchternde Erlebnisse nach euphorischen Stunden können Betroffene in eine schmerzhafte, selbstzerstörerische Isolation führen, weil es so unheimlich schwer ist, zu akzeptieren, daß man Opfer einer Täuschung wurde. Sollte ich den Künstlern, „unseren Künstlern“, wirklich auf den Leim gegangen sein? Anscheinend ja! Zum Glück haben mich aber nicht alle Sänger/innen und Instrumentalsolisten betrogen, und die, die es taten, bestimmt nicht dauernd. Davon bin ich überzeugt! Zumindest diese Gewißheit verschafft etwas Erleichterung und gibt mich nicht ganz der Lächerlichkeit preis.
Die Chronologie der Ereignisse ist schnell erzählt. Freitag, 3. April 1998, 23 Uhr. Ich verließ in glückseliger Stimmung, bar jedweder Kritikfähigkeit oder gar -absicht, den Festsaal des Ingolstädter Theaters. Das Benefizkonzert zugunsten des Banater Seniorenzentrums „Josef Nischbach“ war soeben verklungen. Wunderschöne Musik von Joseph Haydn, über böhmische Blasmusik bis zu Eigenkompositionen Mara Kaysers hatten eine Begeisterung in mir hervorgerufen, die bis in die späten Nachmittagsstunden des folgenden Montags anhielt. Dann befand ich mich nämlich im Kreise einiger Musikanten, die ebenfalls diesem Konzert beigewohnt hatten; allerdings nicht nur mit Herz, so wie ich und viele andere Konzertbesucher wahrscheinlich auch, sondern auch mit Verstand, gepaart mit den jeweils entsprechenden Musikkenntnissen. Meine spontanen Begeisterungsausbrüche prallten in dieser Runde auf Häme und Spott. Bemerkungen wie „Hast du schon mal was gehört von Playback“ oder „Wie kann man so naiv sein, um sich derart verarschen zu lassen“ waren für mich dann die Auslöser, das Erlebte so weit wie möglich aus meinen Erinnerungen hervorzurufen und etwas realistischer zu analysieren, nicht ohne jedoch vorher auch Nichtmusiker nach ihrer Meinung zu fragen, ist bekanntermaßen bei Urteilen von Musikern über Musiker doch immer sehr viel Subjektivität, um nicht zu sagen Neid, im Spiel. Leider bekam ich – besonders von Leuten, die in den ersten Reihen des ausverkauften Hauses (ca. 1200 Plätze) saßen – Ähnliches zu hören. Allerdings glaube ich, aus diesen Stimmen eher Enttäuschung und Bedauern vernommen zu haben.
Nun könnten solche Gedanken sehr schnell den Eindruck erwecken , daß dieser Abend der volkstümlichen Musik mit Banater Interpreten ein Mißerfolg war. Das war er beileibe nicht. Wenn ich mir die glücklichen, teils sogar verklärten Gesichtszüge vieler Landsleute in Erinnerung rufe, so bleibt mir gar nichts anderes übrig, als diese Benefizveranstaltung als vollen Erfolg zu bewerten. Das war sie schon insofern, als die eingangs erwähnten Schatten das von den überwiegenden Live-Darbietungen ausgestrahlte Licht in keiner Weise beeinträchtigen konnten. 
Den Lichtquellen dieses Abends gebührt sowohl für ihren selbstlosen (honorarfreien) Einsatz für ein großes Werk der Nächstenliebe, als auch für die guten und sehr guten musikalischen Leistungen volles Lob. Die Namen der Künstler, die dieses Konzert gestalteten, sind unseren Landsleuten zum großen Teil bekannt und angesichts der Vielfalt der zu Gehör gebrachten Musikgenres – eigentlich eine angenehme Überraschung für eine als Abend der volkstümlichen Musik angekündigte Veranstaltung – konnte wohl jeder Zuschauer mit „seinem Star“ zufrieden sein. (Es war bestimmt keine sehr glückliche Entscheidung der Regie, eine der auftretenden Sängerinnen als „Star des Abends“ zu behandeln.)
Die Hollich-Familie war mit den Rosenkavalieren bestimmt eine sowohl gesamtmusikalisch als auch instrumental- und vokalsolistisch betrachtet angenehme Erscheinung. Die kleine Geigerin Larissa Hollich als Überraschung zu präsentieren, war eine gute Idee. Bei ihrem für die Geigenpolka geernteten Riesenbeifall erübrigt sich jeder Kommentar. Rose Hollich konnte durchwegs mit ihrem Gesang überzeugen und wird aus dem Reigen Banater Sängerinnen nicht mehr wegzudenken sein. Anton Hollich – sein Hummelflug auf der Klarinette war der eigentliche Stein des Anstoßes für die Konzertbesucher mit Verstand – leitet mit den Rosenkavalieren eine sehr gut eingespielte Tanzkapelle. Ob unsere etwas schwerblütigen Landsleute mit optischer Musikgaudi á la „Lustige Musikanten“ allerdings zu beglücken sind, möchte ich doch lieber bezweifeln, als ihnen kritiklose Zugeständnisse an kurzlebige Zeitgeisterscheinungen anzudichten.
Mara Kayser präsentierte sich wie gewohnt professionell, souverän. Ihre den Landsleuten als Uraufführung geschenkten Eigenkompositionen waren inhaltlich und interpretativ hochwertig, konnten aber bestimmt nicht darüber hinwegtäuschen, daß die breite volkstümliche Fangemeinschaft Deutschlands auch heute noch nicht um die wirkliche Abstammung der Wahlsaarländerin Mara Kayser weiß. Identität sollte auch von begnadeten Künstlern nicht wie ein je nach Interessenlage nötiges oder lästiges Anhängsel zum Karrieremachen instrumentalisiert, sprich, überbetont oder verleugnet werden.
Mathias Loris bot eine solide Leistung. Der Mann kann seine Fähigkeiten einschätzen, und er war auch an diesem Abend nicht angereist, um mit technisch schwierigen Konzertpassagen Bewunderung zu erheischen, sondern spielte dem andächtig lauschenden Publikum zwei wunderschöne Melodien auf seiner Trompete vor. Der Dank des Auditoriums fiel auch dementsprechend herzlich aus.
In die Herzen der Zuhörer sang sich mit Unterstützung eines Klaviers und eines Streichertrios der Männerchor MGV Liedertafel Vohburg. Das imposante musikalische Erscheinungsbild dieses lebendigen Klangkörpers gewinnt durch hervorragende Solopartien und durch die eigenartige Dirigierweise seines Leiters Walter Kindl eine ganz besondere Ausstrahlungskraft. Der Zuschauer wird mit den aus den Handgelenken sehr eindrucksvoll angedeuteten Dynamik- und Tempizeichen unmittelbar von dem aus Bentschek stammenden Musiklehrer auch visuell in die Liedgestaltung eingeführt.
Helga & Werner Salm. Ja, bei ihnen schien nicht nur die Orchesterbegleitung, sondern (zumindest in einem Lied) auch der Gesang vom Band zu kommen; so die kaltblütigen Analytiker. Schade, denn besonders dieser Auftritt hat die nostalgische Ader vieler Landsleute – das Durchschnittsalter des Publikums dürfte so bei 50 gelegen sein – anschwellen lassen. Und weil die überwiegende Mehrheit der begeistert mitempfindenden Menge mit mehr Herz als Verstand an jenem Abend bei der Sache war – ich schließe mich da gerne mit ein -, wurde das Geschwisterpaar zurecht mit stürmischem Beifall hinter die Kulissen entlassen.
Was uns der Schwabenklang mit seinem Kapellmeisterduo Johann Frühwald & Rudi Hellner dargeboten hat, war Blasmusik der feineren Art, ausgefeilt bis zur letzten Sechzehntel und … diese wohltuenden Piani, ein wahrer Ohrenschmaus. Glückwunsch nach Reutlingen!
Weil, wie gesagt, wahrscheinlich jeder Konzertbesucher an jenem 3. April 1998 mit seinem/seinen Lieblingsinterpreten im Herzen den Musentempel an der Donau verlassen hat, so will ich diese gedankliche Rückschau – im vollen Bewußtsein ihrer Subjektivität – mit „meinem Star“ dieses Benefizkonzertes schließen. Er heißt: Ines Aigner. Danke, besonders für diese beeindruckende Hommage an Bertolt Brecht. Das liebliche Mädchen von gestern (Trio „Herzblatt“) ist eine Sopranistin in stürmischer Entwicklungsphase, die hoffentlich noch lange anhält und sie eines Tages im Bereich ihrer Musiksparte (klassisches und modernes Liedgut) dorthin führt, wo Mara Kayser heute im volkstümlichen Musikstadel steht, nämlich an die Spitze.
Moderiert wurde dieses dreistündige Musikprogramm von Anneliese Krutsch so, wie man es von ihr gewohnt ist: vornehm zurückhaltend und trotzdem informativ, mit klarer, deutlicher Diktion.
Die auf eine große Leinwand projizierten Abbildungen des in die erste Bauphase gestarteten Pflege und Seniorenheims „Josef Nischbach“ mit dem Namen des jeweils auf der Bühne stehenden Künstlers verlieh dem Bühnengeschehen einen dauernd festlichen Rahmen. (Projektionen: Hans Rothgerber).
Für die Regie zeichnete Hans Szeghedi, assistiert von Stefan Mlynarzek und Franz Mlynarzek.
FotoQuelle: BANATER POST
Initiiert wurde diese aufwendige Veranstaltung von Peter Krier und Franziska Graf. Wie es ihnen gelungen ist, so viele hochkarätige und vielbeschäftigte Musiker an einem Abend auf eine Bühne zu bringen, und das sogar ziemlich kurzfristig – noch im Februar war ein Benefizkonzert mit einem großen Blasmusikorchester im Gespräch -, bleibt ihr Geheimnis. Ausgezahlt hat sich die Mühe auf jeden Fall , denn als Helmut Schneider, Vorsitzender des Hilfswerks der Banater Schwaben, beim großen Finale einen Scheck von 72.285 DM (22.285 DM Kartenverkauf plus 50.000 vom Landesverband Bayern unserer Landsmannschaft) in Empfang nahm, waren bestimmt alle zufrieden; die, die nur mit dem Herzen dabei waren sowieso und die mit dem kritischen Verstand (auf deren Stimmen wir eigentlich nach keiner unserer Veranstaltungen verzichten sollten) auch.
Dank dem starken, wohltuenden Licht und trotz des schwachen Schattens gebührt Organisatoren und Künstlern gleichermaßen hohe Anerkennung für dieses Benefizkonzert in Ingolstadt. Danke, und vielleicht irgendwann auf ein Nächstes, denn die Palette unserer Banater Künstler ist noch lange nicht ausgeschöpft.

Anton Potche

aus BANATER POST, München, 20. Mai 1998

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