Eine leere Zeitungsseite kann
durchaus zum Nachdenken anregen. Ich hielt schon mal eine Zeitung mit
einer leeren Seite in den Händen. Es war eine rumänische Zeitung,
einige Tage nach dem Sturz des Diktators mit dem freundlichen, ewig
jungen Zeitungslächeln. Ich weiß nicht, ob diese leere
Zeitungsseite nach den blutigen Weihnachtstagen 1989 die Folge eines
technischen Fehlers war oder Absicht. Hinweise darauf gab es auch auf
den beschriebenen Seiten nicht.
Symbolträchtig
war die leere Seite allemal. Der Diktator ward vom Volkszorn
hinweggefegt. Man will es kaum glauben, aber sein plötzliches
Verschwinden hinterließ eine Leere. Er war da, jahre-,
jahrzehntelang, überall, im Alltag jedes Einzelnen, durch tägliche
Verordnungen und „indicații prețioase”
(wertvolle Ratschläge). Er war allgegenwärtig mit den Augen
seiner Securitate: im Pendlerzug, auf dem Arbeitsplatz, im Kino, in
der Dorfgemeinschaft – auch in der rumäniendeutschen -, in der
Kirche, im Ehebett und natürlich in der Zeitung. Manchmal kam er mir
einsam vor in seiner alles verdrängenden Allgegenwärtigkeit.
Die
bis 1990 in Temeswar erschienene NEUE BANATER ZEITUNG trägt in ihrer
Ausgabe vom 23. Juli 1989 auf der ersten Seite die rote Überschrift:
„Vor 24 Jahren wählte der IX. Parteitag als Willensäusserung des
ganzen Volkes Genosse NICOLAE CEAUȘESCU
in das höchste Amt der RKP.“ Die erste, die zweite, die dritte und
die Hälfte der vierten Seite sind den „Jahren hehrster
Erfüllungen“ gewidmet. Die übrig gebliebene Hälfte der vierten
Seite beinhaltet die Rubriken „wer wo was wie wann“,
„Litfaßsäule“, „Glückwünsche“ und zwei Mitteilungen an
die Bürger, wovon eine mit der erbaulichen Information, daß in
einigen Temeswarer Stadtvierteln für sechs Tage „die
Heisswasserzufuhr unterbrochen wird“.
Dann
ist die Zeitung zu Ende. Sie hat keine fünfte Seite. Der 23. Juli
1989 war ein Sonntag.
So
wie diese Zeitung sahen an jenem Sonntag alle Zeitungen in Rumänien
aus. Nur in den Sprachen unterschieden sie sich: rumänisch,
ungarisch, deutsch, serbisch. Die Zeitungen waren bedruckt und
trotzdem leer. Mit der Hinrichtung des Diktators war die bis dahin
mit Huldigungen visualisierte Leere plötzlich zu einer metapherlosen
Leere geworden. Für die Menschen in Rumänien war das kein
bedauernswerter Zustand, aber immerhin ein ungewöhnlicher.
Ich
hielt damals das leere, unbeschriebene rumänische Zeitungsblatt in
den Händen und hatte nichts zu lesen, wie ich viele Jahre lang,
während meines Lebens in der Diktatur, viel zu wenig zum Lesen
hatte. Das machte die Sinne frei, frei für Blicke hinter die
Augenlider, zurück in das Haus in der schnurgeraden
banatschwäbischen Dorfgasse.
Besuch
aus Deutschland, aus Ingolstadt ist angekommen: die Schwester und der
Schwager mit den Kindern. Sie packen aus. Lebensmittel und
Kleidungsstücke kommen zum Vorschein und zuletzt DER SPIEGEL und ein
DONAUKURIER von vorgestern.
Beide
lagen ganz unten, versteckt vor den Augen der rumänischen
Zollbeamten. Gefährliche Ware, unheilvolle Ware, die Nachrichten aus
der freien Welt beinhaltete, ansteckende Nachrichten. Diese mit
Freiheitsviren verseuchten Bewußtseinsanreger waren zwar nicht
offiziell verboten, aber doch unerwünscht in der Diktatur. Nicht zu
Unrecht, denn wer sich schon mal in einem von Stacheldraht und
Maschinengewehren umgebenen Land nach „Draußen“ sehnte, der
weiß, wie verlockend Nachrichten aus der Freiheit wirken. Sie
erwecken unzähmbare Begehrlichkeiten, und vor allem verklären sie
für den Sehnsüchtigen die erträumte Welt.
Die
kritischen Auseinandersetzungen mit den gesellschaftspolitischen
Problemen Deutschlands in den Spalten der „ausländischen“
Zeitungen vermochten es damals nicht – es war Anfang der achtziger
Jahre -, in meinem Kopf differenzierte Bilder von dem Land, nach dem
ich mich so sehnte, entstehen zu lassen. Im Gegenteil: der krasse
Unterschied zwischen dem verachteten rumänischen Kultbrei und der
Themenvielfalt der bundesdeutschen Presseprodukte ließ vor meinen
bereits in Auswanderungsagonie erstarrten Augen eine Welt mit
unbeschränkten Freiheiten in einem unrealistischen
Gerechtigkeitsschein erstehen. Das Menschenbild, das ich mir von
einem „Deutschländer“ damals machte, war ein unwirkliches,
heroisiertes.
Erst
Jahre später, als ich den Schock des falschen Weltbildes, mit dem
ich als Aussiedler in dieses Land kam, überwunden hatte, wurde mir
langsam klar, daß mir in jener Zeit, als ich den SPIEGEL und den
DONAUKURIER hinter dem Eisernen Vorhang las, ein analytisches Denken
überhaupt nicht eigen war, eine Folge der bedruckten und bebilderten
Leere in den rumänischen Zeitungen, mit der ich aufwuchs.
Jetzt liegt wieder eine leere
Zeitungsseite vor mir, gewollt leer, als Anstoß zum Nachdenken und
zum Füllen zu den Lesern geschickt. Ich stelle dieser leeren
Zeitungsseite meine aus der Diktatur mitgebrachte beschriebene und
bebilderte und trotzdem leere – nur leere, weil dieses Adjektiv
(rein inhaltlich) nicht steigerbar ist – Zeitung gegenüber.
Der
Unterschied zwischen den beiden Blättern ist in ihrer Verfügbarkeit
auszumachen. Das mit Absicht leer gelassene Blatt provoziert zum
Nachdenken, während die bedruckte leere Zeitung wegen den schlechten
Hafteigenschaften der Druckerschwärze selbst auf einem stillen Örtchen
noch Unheil anrichten kann.
Diese
Gegenüberstellung dämpft meine Überheblichkeit, wenn ich meine,
das eine oder andere Ereignis, das mir wichtig erscheint, müßte
unbedingt in angemessener Form – natürlich setze ich die Maßstäbe
– im DONAUKURIER gewürdigt werden, und verhilft mir zur Annahme,
daß Journalisten zwangsläufig mit der Erkenntnis leben müssen:
Allen Leuten Recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.
Eine
Zeitung, die uns zuweilen leer vorkommt, weil unsere ureigenen
Vorstellungen keine Berücksichtigung finden, ist immerhin
verträglicher als eine Zeitung, deren seitenfüllende Leere einer
fremden Zensur entspringt. Wenn Zeitungsleere uns zu einer Lehre
gereichen soll, dann müssen wir Tag und Nacht unsere Pressefreiheit
bewachen.
Anton
Potche
aus DONAUKURIER,
Ingolstadt,
8./9. November 1997
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