Dienstag, 15. September 2020

Wenn Leere uns zur Lehre gereichen soll


Eine leere Zeitungsseite kann durchaus zum Nachdenken anregen. Ich hielt schon mal eine Zeitung mit einer leeren Seite in den Händen. Es war eine rumänische Zeitung, einige Tage nach dem Sturz des Diktators mit dem freundlichen, ewig jungen Zeitungslächeln. Ich weiß nicht, ob diese leere Zeitungsseite nach den blutigen Weihnachtstagen 1989 die Folge eines technischen Fehlers war oder Absicht. Hinweise darauf gab es auch auf den beschriebenen Seiten nicht.
Symbolträchtig war die leere Seite allemal. Der Diktator ward vom Volkszorn hinweggefegt. Man will es kaum glauben, aber sein plötzliches Verschwinden hinterließ eine Leere. Er war da, jahre-, jahrzehntelang, überall, im Alltag jedes Einzelnen, durch tägliche Verordnungen und „indicații prețioase” (wertvolle Ratschläge). Er war allgegenwärtig mit den Augen seiner Securitate: im Pendlerzug, auf dem Arbeitsplatz, im Kino, in der Dorfgemeinschaft – auch in der rumäniendeutschen -, in der Kirche, im Ehebett und natürlich in der Zeitung. Manchmal kam er mir einsam vor in seiner alles verdrängenden Allgegenwärtigkeit.
Die bis 1990 in Temeswar erschienene NEUE BANATER ZEITUNG trägt in ihrer Ausgabe vom 23. Juli 1989 auf der ersten Seite die rote Überschrift: „Vor 24 Jahren wählte der IX. Parteitag als Willensäusserung des ganzen Volkes Genosse NICOLAE CEAUȘESCU in das höchste Amt der RKP.“ Die erste, die zweite, die dritte und die Hälfte der vierten Seite sind den „Jahren hehrster Erfüllungen“ gewidmet. Die übrig gebliebene Hälfte der vierten Seite beinhaltet die Rubriken „wer wo was wie wann“, „Litfaßsäule“, „Glückwünsche“ und zwei Mitteilungen an die Bürger, wovon eine mit der erbaulichen Information, daß in einigen Temeswarer Stadtvierteln für sechs Tage „die Heisswasserzufuhr unterbrochen wird“.
Dann ist die Zeitung zu Ende. Sie hat keine fünfte Seite. Der 23. Juli 1989 war ein Sonntag.
So wie diese Zeitung sahen an jenem Sonntag alle Zeitungen in Rumänien aus. Nur in den Sprachen unterschieden sie sich: rumänisch, ungarisch, deutsch, serbisch. Die Zeitungen waren bedruckt und trotzdem leer. Mit der Hinrichtung des Diktators war die bis dahin mit Huldigungen visualisierte Leere plötzlich zu einer metapherlosen Leere geworden. Für die Menschen in Rumänien war das kein bedauernswerter Zustand, aber immerhin ein ungewöhnlicher.
Ich hielt damals das leere, unbeschriebene rumänische Zeitungsblatt in den Händen und hatte nichts zu lesen, wie ich viele Jahre lang, während meines Lebens in der Diktatur, viel zu wenig zum Lesen hatte. Das machte die Sinne frei, frei für Blicke hinter die Augenlider, zurück in das Haus in der schnurgeraden banatschwäbischen Dorfgasse.
Besuch aus Deutschland, aus Ingolstadt ist angekommen: die Schwester und der Schwager mit den Kindern. Sie packen aus. Lebensmittel und Kleidungsstücke kommen zum Vorschein und zuletzt DER SPIEGEL und ein DONAUKURIER von vorgestern.
Beide lagen ganz unten, versteckt vor den Augen der rumänischen Zollbeamten. Gefährliche Ware, unheilvolle Ware, die Nachrichten aus der freien Welt beinhaltete, ansteckende Nachrichten. Diese mit Freiheitsviren verseuchten Bewußtseinsanreger waren zwar nicht offiziell verboten, aber doch unerwünscht in der Diktatur. Nicht zu Unrecht, denn wer sich schon mal in einem von Stacheldraht und Maschinengewehren umgebenen Land nach „Draußen“ sehnte, der weiß, wie verlockend Nachrichten aus der Freiheit wirken. Sie erwecken unzähmbare Begehrlichkeiten, und vor allem verklären sie für den Sehnsüchtigen die erträumte Welt.
Die kritischen Auseinandersetzungen mit den gesellschaftspolitischen Problemen Deutschlands in den Spalten der „ausländischen“ Zeitungen vermochten es damals nicht – es war Anfang der achtziger Jahre -, in meinem Kopf differenzierte Bilder von dem Land, nach dem ich mich so sehnte, entstehen zu lassen. Im Gegenteil: der krasse Unterschied zwischen dem verachteten rumänischen Kultbrei und der Themenvielfalt der bundesdeutschen Presseprodukte ließ vor meinen bereits in Auswanderungsagonie erstarrten Augen eine Welt mit unbeschränkten Freiheiten in einem unrealistischen Gerechtigkeitsschein erstehen. Das Menschenbild, das ich mir von einem „Deutschländer“ damals machte, war ein unwirkliches, heroisiertes.
Erst Jahre später, als ich den Schock des falschen Weltbildes, mit dem ich als Aussiedler in dieses Land kam, überwunden hatte, wurde mir langsam klar, daß mir in jener Zeit, als ich den SPIEGEL und den DONAUKURIER hinter dem Eisernen Vorhang las, ein analytisches Denken überhaupt nicht eigen war, eine Folge der bedruckten und bebilderten Leere in den rumänischen Zeitungen, mit der ich aufwuchs. 
Jetzt liegt wieder eine leere Zeitungsseite vor mir, gewollt leer, als Anstoß zum Nachdenken und zum Füllen zu den Lesern geschickt. Ich stelle dieser leeren Zeitungsseite meine aus der Diktatur mitgebrachte beschriebene und bebilderte und trotzdem leere – nur leere, weil dieses Adjektiv (rein inhaltlich) nicht steigerbar ist – Zeitung gegenüber. 
Der Unterschied zwischen den beiden Blättern ist in ihrer Verfügbarkeit auszumachen. Das mit Absicht leer gelassene Blatt provoziert zum Nachdenken, während die bedruckte leere Zeitung wegen den schlechten Hafteigenschaften der Druckerschwärze selbst auf einem stillen Örtchen noch Unheil anrichten kann.
Diese Gegenüberstellung dämpft meine Überheblichkeit, wenn ich meine, das eine oder andere Ereignis, das mir wichtig erscheint, müßte unbedingt in angemessener Form – natürlich setze ich die Maßstäbe – im DONAUKURIER gewürdigt werden, und verhilft mir zur Annahme, daß Journalisten zwangsläufig mit der Erkenntnis leben müssen: Allen Leuten Recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.
Eine Zeitung, die uns zuweilen leer vorkommt, weil unsere ureigenen Vorstellungen keine Berücksichtigung finden, ist immerhin verträglicher als eine Zeitung, deren seitenfüllende Leere einer fremden Zensur entspringt. Wenn Zeitungsleere uns zu einer Lehre gereichen soll, dann müssen wir Tag und Nacht unsere Pressefreiheit bewachen.

Anton Potche


aus DONAUKURIER, Ingolstadt, 
8./9. November 1997

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