Dienstag, 4. August 2020

Ein „Puck“ aus dem Banat

Nikolaus Wolcz inszeniert in Ingolstadt
Ein Sommernachtstraum
von William Shakespeare

Ein Sommernachtstraum, der Stoff, aus dem die Träume sind? Wohl doch nicht, denn ich schlief danach tief und traumlos in den nächsten Tag. Literaturwissenschaftler vermuten, daß ein Teil der Inhaltsfäden, aus denen dieser Sommernachtstraum gewebt ist, Ovids Verwandlungssagen (Metamorhoses) entstammen. Der Mann, der diesen Traum jetzt auf die Bühne zauberte, war Lehrling des großen Theatermeisters Liviu Ciulei. Er studierte an der Theater- und Filmhochschule Ion Luca Caragiale in Bukarest, unweit von Ovids Verbannungsort Tomis. Dieser Bogen mag nun sehr flüchtig sein. Fakt ist, daß Nikolaus Wolcz Shakespeares Sommernachtstraum im Theater Ingolstadt so inszeniert hat, daß die dadurch hervorgerufene Sinnesanregung nicht schon in der Theatertiefgarage verflogen war.
Spielzeiteröffnung in Ingolstadt. Das heißt mehr als städtischer Kulturbetrieb mit Sehen und Gesehenwerden. Das heißt Spielbeginn an einer der erfolgreichsten Bühnen Deutschlands mit einer durchschnittlichen Platzausnutzung von 89,25 Prozent in den drei Spielstätten (Großes Haus, Studio, Werkstatt) und einem Abonnentenstamm von 6651 Theaterfreaks. Mit einem Kostenzuschuß von nur 42,07 DM pro Karte aus dem Kulturfonds der Stadt hält dieses Theater einen einsamen Spitzenrekord in Deutschland. - Das heißt auch Aktivitäten wie der Ingolstädter Theater-Frühschoppen Sonntag um 11 Uhr im zum Stehcafé umfunktionierten Foyer des Großen Hauses, eine Idee des Intendanten Wolfram Krempel. Es gibt keine Bühne, keine andere, künstliche Welt. Sie sind da im Theatercafé, ungeschminkt, erreichbar, alle, die mit der bevorstehenden Premiere zu tun haben: Schauspieler, Bühnenbildner, Intendant und natürlich der Regisseur. Die Künstler bieten einen Vorgeschmack auf das Kommende, ganz locker, oft noch mit dem Text in der Hand, nur so zum Appetitmachen, und die Gestalter von Bühnenbild und Handlung erläutern ihre Konzepte. Auch Nikolaus Wolcz hat das am 14. September 1997 im Ingolstädter Theater-Frühschoppen getan.
Der aus der Temeswarer Josefstadt stammende und heute an der Columbia University New York lehrende Schauspieler und Regisseur, im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltenbummler auf den Bühnen vieler Metropolen der westlichen Welt, wirkte fast schüchtern und strahlte eben darum eine besondere Faszination aus. Der Träger des Bayerischen Theaterpreises 1992 sprach von alchimistischen Vorgängen und Shakespeares gelungenem Entwurf eines Kollektivraums. Da fehlte es nicht an Denkanstößen, die die Besucher dieses Frühschoppens mit in den Sonntag nahmen, und die Meßlatte für die bevorstehende Premiere lag entsprechend hoch. Als dann am Abend der Erstaufführung (19. September 1997) die Zuschauer ein in Hochform agierendes Theaterensemble mit rhythmischem Applaus verabschiedeten, waren sie der Faszination eines Zauberlehrlings erlegen, der eine dreistündige Märchenwelt nach Shakespeares Vorlage, in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, auf die Bretter, die die Welt bedeuten, gezaubert hatte. So nachsichtig kann Schicksal sein! Obwohl dieser Zauberlehrling in den politgeographischen und geistigen Grenzen einer Diktatur sein Kunstgewerbe erlernte, blieb nichts von all dem Bösen an seinem Genius haften.
Friedrich Schilha (Mitte) als Schneider
Schlucker in der Wolcz-Inszenierung
Ein Sommernachtstraum 

Foto: Reinhard Dorn
FotoQuelle: KK
Lebensfreude von der ersten bis zur letzten Sekunde, voller erotischer Glanzpunkte, beherrscht das nicht einfach zu entschlüsselnde Geschehen in dieser Wolcz-Inszenierung. Theseus, Herzog von Athen, bereitet seine Hochzeit mit der Amazonenkönigin Hippolyta vor. Ohne Theateraufführung ist ein solches Fest im altertümlichen Athen natürlich nicht vorstellbar. Sechs biedere Handwerker bereiten eine Aufführung für die Hochzeitsgäste vor. Die Vorfreude auf das Fest wird von einem Zwischenfall getrübt. Der Athener Bürger Egeus klagt dem Herzog seiner Tochter Ungehorsam. Diese, Hermia, soll nach väterlichem Wille Demetrius heiraten. Das Mädchen liebt aber Lysander. Nach Athener Recht muß der Wille des Vaters gelten, oder Hermia hat die Wahl zwischen Tod und Kloster. Die Liebenden flüchten in den Wald, gefolgt von Hermias Freundin Helena und dem von ihr vergötterten Demetrius.
Alles ist in Bewegung. Das Schloß verwandelt sich in einen Märchenwald. Die Natur übernimmt das Zepter. In einer fantastischen Traumwelt mit sinnenbetörenden Elfentänzen verschmelzen die Liebes- und Eifersuchtsszenen des Elfenkönigspaares Oberon und Titania mit den Gefühlen der in ihrem Reich gestrandeten Menschenkinder. Selbst Zettel, der Weber und Besserwisser aus der Handwerkergruppe, landet in diesem Schmelztiegel der Seelenkonvulsionen. Puck, Oberons Hofnarr, geistert durch das Zauberland und stiftet auf Geheiß seines Herrn unheilvolles Durcheinander. Er verwandelt Zettel in einen Esel und ergötzt sich an der blinden Liebe Titanias zu diesem Geschöpf. Hermia erlebt verzweifelt, wie Demetrius und Lysander plötzlich um ihre Freundin Helena, die bis dahin so glücklos Liebende, werben und sogar die Degen kreuzen. Shakespeare läßt Puck die Erleichterung verkünden: „Wenn wir Schatten euch mißfielen / Denkt nur dies von unsren Spielen, / Daß euch hier ein Schlummer hielt, / Als die Einbildung gespielt. / Daß die eitel dumm Geschicht / Nicht mehr wiegt als Traumgesicht.“
Der Tag bricht an. Theseus begnadigt Hermia und genehmigt ihre Liebe zu Lysander. Zettel ist wieder Zettel. Aber etwas ist von Pucks Spuck in die Wirklichkeit eingedrungen; und es ist das Gute, das aus dem Sommernachtstraum in das geordnete Tagesgeschehen fließt. Demetrius entdeckt seine Liebe zu Helena, und nichts steht dem Fest der drei Hochzeiten mehr im Wege. Die linkischen, gutherzigen Handwerker spielen ihr Stück über die verbotene Liebe von Pyramos und Thisbe. Szenenapplaus begleitet ihr Spiel. Wolcz parodiert mit Mitteln des Stummfilms und läßt Shakespeares garndiose Verse von sechs Chaplins rezitieren.
Im Offenen endet die Begegnung des britannischen Genies mit dem Banater Artisten, dem seine Landsleute Friedrich Schilha als Regiemitarbeiter und Darsteller des Schneiders Schlucker sowie Eleonore Schilha als Inspizientin zur Seite standen beim Beweis, daß nichts so überregional ist wie die Phantasie.

Anton Potche

aus KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ, 
Bonn, 25. Oktober 1997

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