Montag, 23. Dezember 2019

Eine erschütternde Begegnung

Roman über eine Banater Schwäbin


Gerda von Kries: Verena Enderlin, Wanderschaft und Heimkehr; Roman, Herausgegeben von der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Kreisverband München, 1996, 320 S., DM 28,--; Bestellung: Kreisverband München der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Sendlinger Straße 46/I, 80331 München

Soeben ist ein Mensch in mein Leben getreten, der mich wohl noch lange begleiten wird. Eine Frauengestalt offenbart sich mir, die in ihrer Einfachheit und unverfälschten Gefühlswelt in der Literatur ihresgleichen sucht. Verena Enderlin erhebt sich aus einer Zeit, als die Menschen noch weniger als heute wußten, wie ihnen geschieht. Sie konnten die politischen Entscheidungen der Mächtigen nicht nachvollziehen und kannten kein Mitbestimmung einforderndes Aufbegehren. Ihre einzige Hoffnung lag in ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen, aus dem sie die Kraft für Schicksalsschläge schöpften, denen wir „moderne“ Menschen heute kaum noch gewachsen wären.
Man sucht nach dem Lesen des Romans Verena Enderlin von Gerda von Kries unwillkürlich nach vergleichbaren Romanfiguren, deren gescheiterte Entwurzelungsversuche aus der heimatlichen Scholle schon immer als Begleiterscheinung geschichtlicher Umwälzungen in Erscheinung traten, und stößt dabei auf Namen wie Grigori Melechow aus Michael Scholochows Der stille Don, Wang Lang aus Pearl S. Bucks (Nobelpreis 1938) Die gute Erde oder auf Achim Moromete aus Marin Predas Delirul (Delirium). Nun hängt es aber wesentlich davon ab, ob der nach Vergleichen Suchende aus rein literarischem und / oder geschichtlichem Interesse Bücherregale durchstöbert, oder ob er bereits zu irgendeinem der Gestalten ganz unbewußt eine emotionale Beziehung aufgebaut hat. Wenn ihm dies widerfahren ist, wird er von dem Schicksal seines Helden so erschüttert sein, daß jeder angestrebte – womöglich auch noch objektive – Vergleich zum Scheitern verurteilt ist. In den Vordergrund rückt die Einzigartigkeit der vom Leser verinnerlichten Romanfigur, die man liebt oder haßt, mit der man leidet und sich freut …
Sich freut? Mit Verena Enderlin kann man sich wenig freuen. Ihr Leben war eine Passion und die unergründbarsten Tiefen ihres Leidens sind eine Kurzfassung unseres donauschwäbischen Werdens und Vergehens. Die Frau aus dem malerischen Schwarzwald an der Schweizer Grenze ist mit Mann und Kindern zur Zeit Maria Theresias ins ferne Banat aufgebrochen, um ein menschenwürdigeres, vom Bettelstab unabhängiges und von der Arbeit der eigenen Hände gestaltetes Leben zu führen. Sie ist gescheitert.
„Umsonst?“ lautet die Überschrift des 21. Kapitels. Nein, können wir heute sagen, denn wir sind. Aber Freude empfinden wir ebenso wenig wie Verena Enderlin. Das materielle Werk unserer Väter ist bereits mit einer anderen Farbe übertüncht und ihr geistiges Erbe erleichtert lediglich unser augenblickliches Identitätsempfinden, das unschwer im 22sten, und letzten, Kapitel dieses Romans nachzuvollziehen ist: „Die Heimkehr“.
Da sind die Augen längst feucht. Und was sich dann entlädt, kann nur Heimweh sein, das so hartnäckig in uns wurzelnde und nur oberflächlich verdrängbare Gefühl. Aber das ist ja nur ein Roman, tröstet man sich zum Schluß, um dann im Nachwort erschüttert zu erfahren, daß Gerda von Kries (1901 – 1973) Dichtung und Wahrheit sehr eng miteinander verknüpft hat.
Nun lege ich den Bleistift hin, ohne die bereits im Ansatz zum Mißraten verurteilte Rezension überhaupt richtig begonnen zu haben. Was müßte denn da drin stehen? Vielleicht etwas von Sentimentalität, von zum Glück nur wenigen Sätzen, die in ein Geschichtsbuch gehören, vom bedauerlichen Fehlen einer ISBN-Nummer, von … Alles verblassende Nebensächlichkeiten neben der heroischen Frau aus dem Hotzenwald, die, dank dem mit offenen Augen und Ohren immer wieder durch die deutschen Lande reisenden Banater Schwabe Franz Andor, dem Vergessen entrissen und unserem Gemüt zugeführt wurde.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 22. Juni 1997

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