- Ein
Urlaubserlebnis von Mark Jahr -
Frau Armelt, deren Ferienwohnung wir
seit einigen Tagen behausten, hatte uns den Tipp gegeben, mit einer
Reisegesellschaft, die viel billiger als das örtliche Fremdenverkehrsamt sei,
nach Holland zu fahren, um von dort aus die Nordsee kennenzulernen. Die
redselige Schlesierin, die vom Oststurm der vierziger Jahre nach Norden
verschlagen wurde und jetzt von den Meer- und Brisensehnsüchten der Binnenländer
lebt, hatte für uns sparbewußte Aussiedlerfamilie die günstigste
Land-See-Kombination ausfindig gemacht.
Leider stand unsere Reise von Norden
nach Eemshaven unter keinem guten Stern. Wir mußten doch die Grenze passieren
und unsere Kinder hatten keine Ausweise. Nachlässigkeit? Na vielleicht. Überall
ist schon bekannt, daß man für eine Hollandreise nur noch einen
Personalausweis benötigt. Unsere Kinder sind im Reisepaß meiner Frau
eingetragen. Der lag aber zu Hause. Wir sind doch Europäer. Frau Armelt hatte
zwar gesagt, das ginge auch mit einem Tagesvisum für die Kinder; trotzdem hatten
wir ein ungutes Gefühl.
Eine Stunde vor der Abfahrt standen
wir reisefertig vor der Ludgerikirche: die Kinder eine einzig große Vorfreude,
wir mit dem Gedanken an die nichtvorhandenen Kinderausweise im Hinterkopf. Hatte
Frau Armelt nicht in dem Zusammenhang das Fremdenverkehrsamt erwähnt? Warum
warten bis zur Grenze? Wir hatten noch Zeit. Nach dem Stadtplan mußte es dort
sein. Wir schritten den ganzen Marktplatz ab, ohne seine Sehenswürdigkeiten
aufzunehmen, nur suchend. Dabei war es so einfach. Beim zweiten Anlauf fanden
wir das Schild an dem einen der restaurierten Drillingsbürgerhäuser. Das wäre
Sache des Rathauses, sagte uns die Frau an der Information. Zum Glück war das
Rathaus nebenan. Der Pförtner schickte uns zum Einwohnermeldeamt. "Wenn Sie bei
uns nicht gemeldet sind, können wir für Sie nichts tun", bedauerte ein junger
Beamter. Ich hatte den Eindruck, daß er es ehrlich meinte. Statt freudiger
Erwartung hatte sich Beklommenheit unser bemächtigt. Endlich fuhr der Bus von
Jackreisen vor. Ich sagte dem Fahrer gleich Bescheid. Der winkte nur gelangweilt
ab: "Die kontrollieren nur selten."
"Mein Gott, das auch noch: illegal
über die deutsch-holländische Grenze?!"
Jetzt war's egal. Wir zahlten 5 DM pro
Person. Der Spott in diesem Preis fiel uns erst später auf. Der Bus war auf der
Reise. Es ging über Emden durch den Emstunnel zur Grenze. "Noch ein paar
Kilometer." Dann war das blaue Schild mit der von zwölf EG-Sternen umrahmten
Aufschrift "Nederland" da. Die Zollstation. Rechts parkten einige Lkws. Die
Busse und Pkws fuhren geradeaus. Das Zollhäuschen. Es war leer. "Die machen
Brotzeit", bemerkte unser Sohnemann sarkastisch. Mir war nicht zum Spötteln
zumute. Der Bus fuhr langsamer, hielt aber nicht an. Weit und breit war kein
Uniformierter zu sehen. Wir fuhren in Holland und plötzlich hatte ich den Kopf
frei für die Landschaft. Meiner Frau ging es - sie konnte ihre Erleichterung nur
schlecht verbergen - ebenso.
Heidelandschaft, die erfreulicherweise
aber keine Horizontlinie zuläßt. Immer wieder brachten Baumgruppen Abwechslung
für die weit schweifenden Blicke. Wer gut im Zählen ist, konnte zum Zeitvertreib
auch Kühe zählen. Da war allerdings Ausdauer gefragt. Das Element Wasser gehört
selbst im Landesinnern zum Charakter der Landschaft. Die Kanäle sind
schnurgerade und man hat den Eindruck, ihr Wasserspiegel liege über der
Landstraße. Nach sich senkenden Kanalschranken heben sich Brücken, um die
kleinen Frachtschiffe passieren zu lassen. Dann tauchte der Damm in der Ferne
auf. Dort schien die Welt am Ende zu sein. Das Festland ist es auch. Eemshaven,
ein holländischer Hafen ohne Stadt. Wir gingen an Bord.
Ein Nieselregen trieb die Menschen in
den Schiffsbauch. Die meisten von ihnen hatten kaum einen Blick für das Meer.
Sie wollten bloß draußen, hinter Borkum, wo die See unruhig wurde, zollfrei
Zigaretten und Spirituosen einkaufen. Ein Mann redete mich an, für ihn einen
Karton Zigaretten zu kaufen. Mich interessierte das Schmuggelgeschäft nicht. Die
Freude unserer Kinder, die den Regen und das Peitschen des Windes auf Deck
genossen, war uns mehr wert. Bis zum zweiten Grenzübergang wollten wir keine
neuen Spannungen. Wir kauften auch ein wenig, Risikomengen achtsam vermeidend,
in dem bis Borkum versiegelten Supermarkt von dem zollfreien Angebot. Der Wind
hatte an Stärke zugelegt. Meine Frau wollte schon immer einen ernsten Wellengang
miterleben. Sie führte des öfteren die Hand zum Mund und nahm, dem Zorn
Poseidons Anerkennung und Respekt zollend, tief Luft. Unser Sohn stand noch
immer auf Deck und träumte in die Ferne. Unsere Tochter aber kuschelte sich
bereits in Mamas Schoß.
Der Bus fuhr wieder in Richtung
Deutschland. Derselbe Grenzübergang. Wir hatten die Zollbestimmungen nicht
verletzt, brauchten also nichts befürchten. Nur die Kinderausweise irrten noch
immer durch mein Unterbewußtsein. Die mir so vertraute Sorgenfalten auf der
Stirn meiner Frau waren plötzlich wieder da. "Bundesrepublik Deutschland" im
schon vertrauten EG-Outfit. Polizeiwagen standen an der Zollstation, aber weder
Polizisten noch Zöllner waren zu sehen.
Während wir nordwärts durch die
ostfriesischen Moor- und Geestdörfer fuhren, versuchte ich meinem Sohn zu
erklären, daß er und seine Schwester soeben eine Staatsgrenze illegal
überschritten und überfahren hatten. Der Bub sah mich verständnislos an. Er
konnte die Begriffe Grenze und illegal nur mit Mühe assoziieren. Wir, seine
Eltern, sahen uns lächelnd an und erlebten intensiver denn je das Glück
"grenzenloser" Freiheit.
aus DER
DONAUSCHWABE,
Aalen, 14./21 August 1994
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