Montag, 3. Juni 2013

Zwischen Dichtung und Politik

Der Lyriker Mircea Dinescu in Augsburg
Es gibt Aussagen und spontane Ausrufe, die in die Geschichte eingegangen sind. Man kennt diese Sätze und benutzt sie, ohne an die Personen und Ereignisse, denen sie zu verdanken sind, zu denken oder sie überhaupt zu kennen.
In der Geschichte Rumäniens könnte der Verkündung "Dictatorul a fugit! Am învins, am învins!" eine geschichtliche Bedeutung beigemessen werden. Ihr Ausrufer, der Dichter Mircea Dinescu, wurde auf den Schultern der rumänischen Revolutionäre zur Zentrale des ersten "Revolutionsfernsehens" getragen, um diesen auch für das Deutschtum in Rumänien folgenschweren Satz in den Äther zu rufen. Für die Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen bedeuteten diese Worte das Ende einer jahrhundertelangen freiwilligen, kulturell und wirtschaftlich fruchtbaren und erst in den letzten 50 Jahren unfreiwilligen und geistig lähmenden Enklavenexistenz im Südosten Europas.
Während die letzten Deutschen Rumänien verlassen, reist der Rumäne Mircea Dinescu durch Deutschland, um die Früchte seiner literarischen Schweigepflicht der späten 80er Jahre der Ceauşescu-Diktatur zu ernten. Der Präsident des rumänischen Schriftstellerverbandes, der die gestrigen kommunistischen Hofpoeten und heutigen nationalistischen Scharfmacher um Eugen Barbu und Corneliu Vadim Tudor vorläufig (man muß dieses Wort angesichts der Situation in Rumänien leider gebrauchen) aus dem Schriftstellerverband verdrängt hat, genießt in Deutschland für einen fremdsprachigen zeitgenössischen Poeten außergewöhnlich hohes Ansehen. In der Südwestfunk-Bestenliste der letzten 3 Monate, die von 28 Literaturkritikern in unabhängiger Auswahl zusammengestellt wird, ist Mircea Dinescus zweisprachiger Gedichtband Ein Maulkorb fürs Gras, übersetzt von Werner Söllner, auf Platz 4 vorzufinden.
Am 8. Mai wurde der 41jährige "rumänische Majakowski" (so die AUGSBURGER ALLGEMEINE) zum Akademischen Ehrenbürger der Universität Augsburg ernannt. Der Dichter nahm das Medieninteresse, das von diesem Ereignis ausgelöst wurde, auch prompt zum Anlaß, die Menschen, die in den Städten Rumäniens gegen den Kommunismus kämpften und gestorben sind, und ihm, dem Hausarrestler, dadurch die Chance der Unsterblichkeit eröffneten, vor den Experten in Schutz zu nehmen, die den revolutionären Charakter und damit auch die Wahrhaftigkeit ihres Freiheitskampfes in Frage stellen.
In einem Interview der AUGSBURGER ALLGEMEINEN rückte der Mann der ersten Stunde die Dinge wieder ins rechte Lot: "Es wäre zugleich lächerlich, absurd und tragisch zu glauben, daß zwischen dem 19., 23. und 24. Dezember 1989 in Rumänien eine Farce inszeniert wurde. Das war ein Volksaufstand. Mehr als tausend Menschen sind gestorben, viele Tausende wurden schwer verletzt. Aber das, so scheint mir, ist hier im Westen vielen Leuten enttäuschend wenig. Die Gerüchte, daß die Revolution eigentlich nur eine Inszenierung von KGB und 'Securitate' war, wurden von diesen Geheimdiensten in die Welt gesetzt. Wir, die wir gekämpft haben, wissen es besser."
Mircea Dinescu
Natürlich durfte man auf eine Lesung mit Mircea Dinescu gespannt sein. Wer sich aber im Bert-Brecht-Hörsaal (14. Mai, 20 Uhr) der Universität Augsburg eingefunden hatte, um einer gewöhnlichen Dichterlesung beizuwohnen, sah sich bald eines Besseren belehrt. Dinescu erzählte in seiner gekonnt schwungvollen, an Gestik und Mimik reichen Art, wie einige seiner Gedichte entstanden sind. Daß die Übersetzerin bei diesem Wortschwall Mühe hatte, den geistigen Winkelzügen des Dichters zu folgen, war da verständlich. Es gelang ihr trotzdem, die humorvolle Hintergründigkeit aus Dinescus Ausführungen dem deutschen Auditorium verständlich zu machen und dieses immer wieder zu erstauntem oder verständlichem Lächeln zu veranlassen. Was Mircea Dinescu vorlas, war eine von Metaphern durchwachsene, aber in keiner Zeile entstellte Erlebnisdichtung. Hier hat nicht einer abgehoben, um sich in irgendwelchen sprachlichen Gipfelstürmen zu erproben, sondern in diesen Gedichten wurde die Sprache des Alltags mit all seinen Nöten und der einzigen ihm verbliebenen Freiheit, dem bissigen, galligen Humor, zur dichterischen Kunstform erhoben. Dabei darf man nicht übersehen, daß die deutschen Nachdichtungen Werner Söllners dem Niveau des Originals in jeder Weise ebenbürtig sind.
Trotzdem konnte man diese Dichterlesung auch mit gemischten Gefühlen verlassen. Gegen Ende seines Vortrages war von Mircea Dinescu zu vernehmen: "Ich wünsche mir manchmal, von einigen Kritikern unter Hausarrest gehalten zu werden." Oder ganz zum Schluß dankte er der Universität Augsburg, daß sie ihm die Gelegenheit gegeben hat, sich zu erinnern, welch großartiger Dichter er in seiner Jugend war. War das überhaupt noch der Dichter aus dem Hausarrest, oder stand da ein Intellektueller, dessen Denken und Handeln längst vom politischen Alltag bestimmt wird? Trugen die Aufständischen am Tag des Ceauşescu-Sturzes den Dichter Mircea Dinescu auf ihren Schultern oder den Vorzeigerevolutionär, von dem sie sich die Befreiung vom kommunistischen Joch erhofften?
Anton Potche
aus BANATER POST, München, 20. August 1991

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