Gedanken
zum Theaterstück "Die Aussiedlerin"
Regie: Thomas Wenzel
Regie: Thomas Wenzel
Die Berliner
Compagnie ist eine Theatergruppe aus Berlin-Kreuzberg, die sich dem
zeitkritischen Theater verschrieben hat. Das Ensemble spielt seit 1982 seine
Stücke in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich Luxemburg, in der Schweiz
und in den Niederlanden.
Am 14.
März 1991 gastierte die Truppe mit dem Theaterstück über Arbeitslosigkeit,
Fremdenhaß und die neue nationale Begeisterung (so der Untertitel) "Die
Aussiedlerin" von Gerhard Fries (der auch die Rolle des Dr. Alfred
Überle übernommen hat) in Ingolstadt.
Heiliger
Abend im Wohnzimmer der Familie Klonz. Mutter Sophie ist von den traditionellen
Stationen dieses Tages in Anspruch genommen: das Essen, der Kirchgang, die Sorge
um das Wohlergehen der Kinder. Evelyn, die Tochter, hat just an diesem Tag den
berühmten Filmemacher Wilhelm Babek kennengelernt. Sie bewundert ihn und hat
ihn eingeladen, ganz altruistisch an ihren Bruder Dieter, ein verträumter
Gerneschauspieler, denkend. Als Gast weilt Miriam Walanjuk aus Polen bei Familie
Klonz. Sie ist erst gekommen, hat ihre Papiere noch nicht in Ordnung, will
bleiben.
Das Warten
auf den großen Wilhelm Babek verdrängt die christlich-festliche Bedeutung des
Abends. Die persönlichen Probleme verschwinden in der Spannung. Miriam, die
Aussiedlerin, bleibt mit ihren Problemen und Gefühlen allein. Wilhelm
Babek beherrscht in seiner Abwesenheit die Szene.
Die
Hausglocke läutet. Es kommt... Dr. Alfred Überle. Der Vertriebenenfunktionär
kennt sich in Volkszugehörigkeitsproblemen aus. Er ist ein alter Freund der
Familie. Gemeinsame Vergangenheit in einer verlorenen, aber nie aufgegebenen
Heimat hielt die Beziehung über Jahrzehnte aufrecht. Der Dialog schafft schnell
Klarheit.
Evelyn ist
ungeduldig und unbeherrscht. Dieter verkennt in seiner Karrieresucht die
Zuneigung Miriams. Dr. Überle ist aufdringlich, allwissend,
gerechtigkeitsbesessen. Die Mutter wirkt unsicher, will Weihnachtsatmosphäre
retten. In diesem Chaos von Gefühlen und Interessen wirkt Miriam, die
Aussiedlerin, immer hilfloser.
Er ist
noch immer nicht da, der erfolgreiche Regisseur Wilhelm Babek. Die Hausglocke.
Evelyn schnellt wie eine Feder... Hans Pletschak kommt. Frau Klonz hatte ihn
eingeladen. Er mäht gelegentlich den Rasen. Er ist jetzt nicht in seiner
Neonaziuniform, sondern in dem grünen Anzug, der ihm zu klein ist und nicht zu
dem kahlgeschorenen Kopf passen will. Seine Sprache ist rudimentär, voller
Invektive, einer ausländerfeindlichen Gruppenideologie entsprungen: Er selbst
ist ein Sklave eingetrichterter dogmatischer Parolen. Und doch ist auch er gegen
Gefühle nicht gefeit. Er scheint Sympathien für die Aussiedlerin, für ihn die
Polin, zu entwickeln. Dr. Überles Recherchieren in Miriams
Volkszugehörigkeitsberechtigungen oder -nichtberechtigungen kann er geistig
kaum folgen.
Dieser
bohrende Ewiggestrige, der selbst die Vertreibungsnöte längst vergessen hat
und vom Vorsitz eines neuen deutschen Vereins träumt, spitzt den Konflikt
weiter zu. Er spricht Miriam das Recht auf die deutsche Volkszugehörigkeit ab.
Die Aussiedlerin spürt, daß menschliche Erwägungen in dem von Dr. Überle
makaber inszenierten Prozeß endgültig auf der Strecke bleiben. Akten und
Paragraphen haben sie als Ausländerin überführt. Fremdenhaß schlägt ihr
entgegen. Trotzgefühle werden wach. Die Aussiedlerin kämpft. Sie greift auf
alte Briefe zurück und entlarvt Dr. Überle als Kriegsverbrecher. Der in die
Enge getriebene Rechtfertigungskünstler schlägt mit Beschuldigungen um sich.
Er braucht Mitschuldige und klagt Frau Klonz der Mitwisserschaft am
Auschwitz-Drama an. Die kränkliche Frau ist der Auseinandersetzung nicht mehr
gewachsen und stirbt unter der Last der sinnlosen Anklage.
Es
läutet. Endlich. Wilhelm Babek kommt. Der Berühmte zieht alle in seinen Bann.
Die Anwesenheit der Toten wird sekundär. Der Regisseur sucht Darsteller für
eine neue Produktion. Die Chance, Filmkarriere zu machen, erdrückt die
Gefühle, mordet selbst die Ehrfurcht vor dem Tod. Wilhelm Babek ist ein
ruchloser, skrupelloser, mieser Spieler, Produzent von pornographischer
Subkultur. Er braucht Kriechtiere, denkunfähige Statisten. Er findet sie hier
in dieser Runde. Um Karriere zu machen, lassen sie sich entwürdigen, alle:
Evelyn Klonz, Dieter Klonz, Hans Pletschak, Dr. Alfred Überle... Fast alle:
Miriam Walanjuk, die Aussiedlerin, bewahrt ihre Würde. Sie bleibt Mensch in
ihrer Not und verlässt angeekelt, aber mit erhobenem Haupt eine Runde, in der
an diesem verhängnisvollen Heiligen Abend Repräsentationsfiguren nicht
bewältigter Vergangenheit und menschlicher Werte entbehrender Gegenwart
zusammengefunden hatten.
Ein ebenso
tragisches wie mutiges Finale löst keinesfalls den Konflikt des Stückes. Es beauftragt
den Zuschauer, sich mit der besonders für übereifrige Nationalapologeten, die
selbst in Aussiedlern nur das Fremdartige erkennen, sehr brisanten Frage zu
beschäftigen: Tragen Aussiedler unerkannte Werte in ihrem Gepäck, die unserer
vorwiegend an Leistung und Anerkennung orientierten Gesellschaft bereits
abhanden gekommen sind?
Einer
spürbaren Betroffenheit nach dem letzten verklungenen Wort folgte
langanhaltender Beifall. Vor dem einfachen, aber aussagekräftigen, einen
rötlich schimmernden Wolkenhimmel darstellenden Bühnenbild haben die Zuschauer
ein bewegtes Schauspiel erlebt. Die Aktualität des Themas ließ dramaturgische
und darstellerische Schwachpunkte des Stückes als kaum wahrnehmbare Begleiterscheinungen
gelten.
Mark
Jahr
aus DER
DONAUSCHWABE, Aalen, 30. Juni 1991
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