Montag, 26. November 2012

Ein Zweiglein sucht Lebensraum

Das Zweiglein. Anthologie junger ungarndeutscher Dichter. Donau-Bücher. Tankönyvkiadó, Budapest 1989. Preis: 49,- Ft. Erhältlich in Buchhandlungen größerer Städte und Touristenzentren Ungarns.

Das Zweiglein brach ab. Niemand sah es, nur der Gärtner. Die Adern pumpten noch Blut bis zur Wunde. Aber das Zweiglein wurde immer dürrer. Und der Gärtner war traurig." Trotzdem scheint das ungarndeutsche Literaturzweiglein zu sprießen. Natürlich braucht es Pflege, um zu einem gesunden Ast heranzuwachsen. Es braucht aber auch Konsumenten, damit seine heranreifende Ernte nicht sinnlos am Boden verfault. Es wäre schade um die frischen Früchte der deutschen Literatur in Ungarn, denn wer sie gekostet hat, wird sie mit Recht schmackhaft finden. Wie ein Körbchen, gefüllt mit genüßlichen Obstarten, mutet Das Zweiglein - Anthologie junger ungarndeutscher Dichter an.
Der allzu früh verstorbene Claus Klotz sinniert in seinen kurzen Texten über die Kurzlebigkeit, aber auch Kurzatmigkeit seines Deutschtums. Seine Assoziationen gebrochenes Zweiglein - gebeugter, aber nie resignierender Volksstamm sind auch bei den anderen Dichtern unter verschiedenen poetischen Formen spürbar. 
"Denkwürdige Tage im privaten Frühling" sind die Tage vor ihrer eigenen Geburt. Valeria Koch (geb. 1949) findet nicht nur in diesem Kurztext über das Gefühl zu einer wohlklingenden Sprache. Auch ihre Gedichte vermitteln die unmittelbare Beziehung Gemüt-Umwelt in Formen, denen Reim und Rhythmus noch nicht ganz abhanden gekommen sind.
"Unser Morgen wirbelt / für Trost am dritten Tag, / - Zukunft ist / die angebotene Möglichkeit." Des Grundschullehrers Bela Bayer (geb. 1951) Gedichte sind nicht länger. Aber wozu mehr Worte? Die Botschaft des bewußten Seins in einer Heimat, in die man schicksalsgemäß hineingeboren wurde, ist klar erkennbar.
Unwegsam und tränenträchtig waren die "Wege durch Schluchten" im Juni 1947. Auch für den acht Jahre später geborenen Josef Michaelisz ist Flucht und Vertreibung kein Schnee von gestern. Ohne die beiden furchtbaren Wörter zu benutzen, gewinnt er flugs die Sympathie des Lesers für die Helden seiner Erzählung.
Laszlo Ritzel (geb. 1956) ist auf der Suche nach den Polen seiner Identität: "Ich weine lachend / Ich bin ein Clown."
Bei Martha Fata (geb. 1959) hat man als Leser seine Schwierigkeiten mit der Analyse ihrer Gedichte. Wie soll man sie interpretieren? Sie gefallen einfach.
"Ich suche dich nicht / suche ich dich nicht? / dich suche ich nicht / nicht dich suche ich?" Auf diese Art und Weise geht es noch weiter mit den "Permutationen" des dichtenden Lehrers Alfred Manz (geb. 1960). So schön kann ein deutsches Sprachexperimet mit der Ebenheit der Puszta sein.
Also wenn das nicht heimisch klingt: "Was koche mr haint, ma Madl? Soll i o paar Pflute oder Pfannkichl mache?" Solche Mundartdialoge in "Tornisterlos" verraten die donauschwäbische Erzählung; Dialoge, die ihre Autorin Eva Gerner (geb. 1961) im Elternhaus genoß.
Der junge Seelsorger der methodistischen Kirche, Robert Hecker (geb. 1963), ging mit sich selbst hart ins Gericht, als er mit seiner jüngsten Vergangenheit reinen Tisch machte: "Beschützt hat uns die Nacht / erwürgt haben wir uns selber; / wir, die das Licht / scheuten."
Erst 23 Jahre alt ist Vata Vagyi und was er schreibt, ist Literatur für starke Nerven. Edgar Allan Poe läßt grüßen. Schade, daß der Germanistikstudent der Fünfkirchner Universität nicht in einer deutschen Kulturmetropole lebt und schreibt. Sein Weg ins Literaturrampenlicht wäre bestimmt leichter.
Viel Sensibilität für die Natur und Abwehrinstinkte für die sie bedrohenden Gefahren  entwickelt trotz seiner Jugend Robert Becker (geb. 1970) aus Surgetin/Szederkeny: "Die Militärflugzeuge / weben gerade / das Kondensstreifennetz. / Und meine Gedanken / hängen schon daran."
Die von der ungarischen Nachrichtenagentur MTI herausgegebene zweisprachige und besonders in den ungarischen Touristikzentren vertriebene Zeitung NEUESTE NACHRICHTEN - DAILY NEWS hat in ihrer Ausgabe vom 8. August 1990 eine Rezension zu diesem Buch, gezeichnet mit Gregor Mayer, veröffentlicht, worin es unter anderem heißt: "Der Fortbestand des Schätzungen zufolge 200.000 Seelen starken Ungarndeutschtums hängt am sprichwörtlich seidenen Faden. Nach dem Krieg verfolgt, dann lange Zeit gerade geduldet und erst in den letzten Jahren zaghaft gefördert, droht den Ungarndeutschen als Ethnikum die Assimilation. Umso erfreulicher ist es dann, wenn junge Schriftsteller der zweiten und dritten Generation nach 1945 mehr als ein Zeichen bloßen Existierens signalisieren. Die in dem jüngst erschienenen, von Johann Schuth redigierten Bändchen Das Zweiglein präsentierten Autoren sind zwischen 1947 und 1970 geboren, stammen größtenteils aus dem Süden des Landes, wo Pecs/Fünfkirchen als kulturelles Zentrum mit dem entsprechenden institutionellen Hintergrund wirksam wurde, versuchen sich mit Vorliebe in der Lyrik, bevorzugen in der Prosa die kurzen Formen und verfügen über ein formales und stilistisches Repertoire, das sich aus der gründlichen Aneignung neuester Entwicklungen in der binnendeutschen Literatur speist."
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 6. Januar 1991

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