Donnerstag, 16. August 2018

Der Strand gehört dem Volk

Ein Kapitel Jahrmarkter Ortsgeschichte

„Niklos, de Finef-Uhr-Zugg kummt. Kumm hinner die Beem, daß die Zuggleit uns net siehn.“ 
Dabei hatte weder Niklos (Nikolaus Potche) noch Phit (Peter Oberle), der Mann, der zu dieser Vorsichtsmaßnahme mahnte, irgendeinen Grund sich zu verstecken. Im Gegenteil, sie gehören zu den Standhaften, die eine Idee bis zu ihrer Gestaltung verfolgten, und der es zu verdanken ist, daß Jahrmarkt einen der schönsten Dorfstrände Rumäniens hatte. 
Als 1965 Ceaușescu an die Macht kam, war der später berüchtigte Diktator erstmals „mit der Konsolidierung seiner Macht beschäftigt und ließ Rumänien weitgehend in Ruhe. Daraus erwuchsen einige wenige glückliche Jahre. Die Kultur blühte auf. Stalinistische und oft prosowjetische Funktionäre wurden alle mit der Keule des neuen rumänischen Nationalismus aus ihren Ämtern verjagt. Mit diesem etwas bizarren Nationalismus hat sich Rumänien zweifellos ideologisch von Moskau entfernt, wenn auch nicht Lichtjahre weit. Genug allerdings, dass der Westen sofort zur wenig fundierten Ansicht gelangte, Rumänien sei der liberalste Staat Osteuropas.“ 
Diese von Dr. Malte Olschewski in seinem Buch Der Conducator – Phänomen der Macht festgehaltene Stimmung spürten auch die Banater Schwaben in ihren weitgehend noch intakten Dorfgemeinschaften, und es gibt ein leuchtendes Beispiel dafür, daß sich in jener Zeit sogar ungewöhnliche kommunalpolitische Projekte in den banatschwäbischen Dörfern durchführen ließen. Daß man natürlich alle dem Kommunismus eigenen „Werte“ kennen und auch geschickt und risikofreudig für das Wohl der Dorfgemeinschaft einsetzen musste, war wohl das Schwierigste für die von – heute kaum noch nachvollziehbarem – Idealismus angetriebenen Gestalter banat-deutscher Kulturgüter. 
In Jahrmarkt gibt es seit 1962 eine Tischlerei, die in ihren ersten zwei Jahrzehnten mit einer überwiegend deutschen Belegschaft gearbeitet hat. Es muß um 1968 gewesen sein, als in diesem Unternehmen die Idee reifte, in den „Kotstoonlecher“ eine Freibad- und Sportanlage zu errichten. Peter Oberle, der damalige Betriebsleiter und Promotor dieses für viele unrealisierbaren Luftschloßprojekts, sagt heute zum Impuls der ursprünglichen Überlegungen: „Ich hun halt immer versucht, unser Kinn im Dorf zu halle, dass se net sunntachs aah noch in die Stadt fahre.“ Die große Stadt. In ihr lauerten die Gefahren, die unsere Selbstwertgefühle gefährden konnten. Die kleinen, überschaubaren Räume sollten sich damals wie heute leichter zu einem Hort heimatlichen Bewusstseins entfalten; eine fast prophetische Gedankenverbindung, wenn man heute sieht, wie traditionelle Werte auf dem Altar einer falsch verstandenen multikulturellen Gesellschaft geopfert werden. 
Ideen sind Schöpfungen der Begeisterung und schenken ihren Müttern und Vätern vorfreudige Erregungen. Die Ernüchterungen kommen aber meist schon beim zielstrebigen Planen und spätestens beim Umsetzen ins Anschau- und Greifbare. Umso schwieriger hatten es die Jahrmarkter Tischler mit ihrer Idee, wollten sie diese doch in einem – trotz allem Liberalisierungsschein – immerhin kommunistischen Staat, in dem Mitdenken von unten verpönt war, verwirklichen. 
Peter Oberle und seine Mannen griffen an, und zwar richtig planstabsmäßig. Zu den aktivsten Mitarbeitern in diesem vielköpfigen Planungs- und Durchführungsstab zählten schon bald der Bautechniker Adam Kernleitner und der vom Zimmermann zum Tischler konvertierte Nikolaus Potche.
Die erste Hürde stand für die beherzten Männer im Jahrmarkter „Sfat popular“ (Volksrat), heute Gemeinderat. Die Mitglieder dieses Gremiums mussten vom Sinn und der Realisierbarkeit des Vorhabens überzeugt werden. Peter Oberle erinnert sich: „Das war schon darum schwer, weil ich kein Parteimitglied war.“ Der Antrag wurde wegen Geldmangel und anderen als wichtiger eingestuften Gemeindeprojekten abgeschmettert. 
Aufgeben? Von wegen! Eine Niederlage in einen Teilerfolg ummünzen, das ist Optimismus, und den hatten die Männer mit der Strandidee. Das Thema Strand war Dorfgespräch. Der Augenblick musste genutzt werden. Erich Tassinger fertigte ein Holzmodell der gesamten Anlage an, die zusammen mit einem von Adam Kernleitner gezeichneten Plan in der „Autoservire“ (Selbstbedienungsladen) neben der Apotheke ausgestellt wurde. Nach etwa einem Monat war in der Dorfbevölkerung eine positive Haltung für das Projekt zu erkennen. 
Der Volksrat reagierte und brachte das Thema erneut auf die Tagesordnung. In einer stürmisch verlaufenen Sitzung schlug Ingenieur Jakob Bild vor, das Bauvorhaben mit freiwilligen Geldbeiträgen der Bürger zu finanzieren. 
Der damalige Volksratsvorsitzende (Bürgermeister) Josef Wagner stellte sich hinter Oberles Vorstellung einer Bürgerbefragung. Uff, kann man da aus heutiger Sicht nur sagen. Beide Vorschläge passierten das Gremium und ein Stück Demokratie in einem kommunistischen Land wurde verwirklicht. Die große Mehrheit der Jahrmarkter Bevölkerung sprach sich für den Strand und eine finanzielle Beteiligung von 100 Lei pro Familie aus. Etwa 100.000 Lei standen so für den Baubeginn zur Verfügung. Nikolaus Pannert, der Kassier des Volksrates, war für die Einsammlung und Buchführung des Geldes zuständig. 
Wichtig war, daß auch der Vorsitzende des Staatlichen Landwirtschaftsbetriebs (SLB) Nicolae Dogariu für das Projekt gewonnen werden konnte. Aber das Schönste war wohl, daß Peter Oberle, Adam Kernleitner und Nikolaus Potche sich bei ihren Vermessungsarbeiten in den „Kotstoonlecher“ nicht mehr vor den spöttischen Blicken der Gegner verstecken mußten. 
Man konnte mit den Arbeiten beginnen. Die Zahl der freiwilligen Mitarbeiter stieg. Fast zwei Jahre lang leistete die Mehrheit der Jahrmarkter Bürger ihre sowieso staatlich verordnete „prestația“ (Arbeitsleistung) für die Gemeinde hier ab. 
Daß es beim Strandbau auch oft mit illegalen Mitteln zuging, kann man bloß aus heutiger Sicht behaupten. Damals hieß es, alles Machbare für das Projekt ist für das Wohl der Gemeinschaft. 
Nikolaus Potche besorgte die Schaltafeln und -bretter für das Becken und die Gebäude (Toiletten und Umkleideräume). Dieses wieder verwertbare Baumaterial wurde auf Leihbasis zur Verfügung gestellt. Das Geschäft fußte auf gegenseitigem Vertrauen und wurde per Handschlag mit dem Bauleiter einer Temeswarer Baufirma in die Wege geleitet. Die Tischlerei stellte während der Arbeitszeit Leute für den Strand frei. Auch die dem SLB eingegliederten technischen Einheiten im Dorf waren diesbezüglich nicht kleinlich. Fehlte es mal an Baugeräten, ließ Tierarzt Peter Stefan seine Beziehungen spielen, und ging der Treibstoff aus, war Petricică der richtige Ansprechpartner. 
Zum Schluß gab es am Jahrmarkter Strandbau kaum noch Unbeteiligte. Auch die Schulkinder halfen im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die Lehrer Hans Speck und Josef Schäffer hatten die Bedeutung des Projekts für die Dorfgemeinschaft von aller Anfang an erkannt. 
Viele persönliche Opfer ließen eine gewaltige Baustelle gedeihen. „Ich hun selmols mei Urlab am Strand verbrung; awwer net beim Bade, norr beim Inschalle, Betoneere un Ausschalle“, erzählt Nikolaus Potche von der damaligen Aufbruchstimmung.

Jahrmarkter Strand im Jahre 1980
Im Sommer 1970 war das Becken in T-Form fertig. In Peter Oberles Erinnerungen steht auf Seite 155: „Es wurde Wasser in das Becken reingelassen. Alle Kinder aus Jahrmarkt konnten das bezeugen, denn sie waren alle da. Zwei Tage und zwei Nächte lief das Wasser vom Prinz-Eugen-Brunnen ins Bad, so daß sonntags morgens um 10 Uhr gebadet werden konnte. […] Ich wagte mich nur zögernd, mittags runter zu gehen und traute meinen Augen nicht, als ich die Menschenmenge dort sah. Ich mußte meine Tränen verbergen.“
Biotop am Jahrmarkter Strand, 1970
Ein Traum war wahr geworden. Auf dem etwa 2 ha großen Areal, auf dem die vorausgegangenen Generationen ihre Kotsteine in Holzformen gestampft haben, entstand in den 70er Jahren ein Freizeit- und Erholungsort mit einem Handballplatz und schattigen Alleen, der den Jahrmarkter Nachkriegsgenerationen ihr Dorf lebenswert machte. 
Die Idylle war leider von kurzer Dauer. Eine Kapitelüberschrift in Ion Mihai Pacepas Buch Red Horizons (Rote Horizonte), Washington 1987, lautet: „Die besten Exportgüter – das Rohöl, die Juden, die Deutschen.“ Der gewesene Generalleutnant und Geheimdienstchef Ceaușescus mußte es ja wissen. 
Die Jahrmarkter Banater Schwaben kannten, wie alle ihre deutschen Landsleute in Rumänien, damals ihren besonderen Marktwert für das größenwahnsinnige Diktatorenehepaar noch nicht, sonst würde es „ihren“ Strand heute bestimmt nicht geben. Sie sollten ihrem Werk trotz allem nicht den Stempel des Vergeblichen aufdrücken, denn zivilisatorische Leistungen erfahren oft ihre wahre Anerkennung erst lange nach ihrem Erbringen. 
Diese Zeit muß in Rumänien anscheinend erst reifen, denn glaubt man einem Artikel der Temeswarer Zeitung RENAȘTEREA BĂNĂȚEANĂ vom 20. Juli 1991, so war es um die Pflege der Anlage nach der Aussiedlung der Deutschen aus Jahrmarkt schlecht bestellt. Die Zeiten der „Stranddirektoren“ Johann Weber und Barbara & Johann Zimmermann sind halt längst vorbei. Barbara Zimmermann erklärte der Zeitung: „Gut, dass Sie gekommen sind. Haben Sie gesehen, wie der Strand aussieht? Schande! Mir tut das Herz weh, wenn ich das sehe. Zehn Jahre haben wir dort gearbeitet, und der Strand war immer rein und die Leute waren gut betreut. Jemand wollte den Strand kaufen, aber das Volk war nicht einverstanden. Es hat gesagt, der Strand gehört dem Volk.“
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 5. Oktober 1996

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