Dienstag, 8. April 2014

Literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung

Norbert Otto Eke (Hg.): Die erfundene Wahrnehmung. Annäherung an Herta Müller: IGEL Verlag Wissenschaft; Paderborn 1991; ISBN 3-927104-15-9.
Sie haben es also doch herausgekriegt, die Autoren dieser literarischen Abhandlung. Ich meine die faszinierende Einmaligkeit in Herta Müllers Prosa. Es geht schon mit überschwänglichen Lobliedern los. Sogar eine "literarische und gesellschaftliche" Institution soll Herta Müller sein. (Norbert Otto Eke).
"Die Einzigartigkeit der Stimme Herta Müllers" (Friedmar Apel) scheint diese jungen Gelehrten - der älteste von ihnen ist 1948 geboren - gebannt zu haben. Sie geben sich wirklich viel Mühe und nehmen die Sätze und Satzfetzen Herta Müllers auseinander, um deren "Duplizität der Wahrnehmung" (Claudia Becker) zu ergründen. Gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, daß sie die Banater Verhältnisse nie direkt kennenlernen konnten.
Dabei kommen ganz eigenartige Bemerkungen über die "Bevormundung des Lesers" durch die Erzählungen Herta Müllers (Michael Günther) zu Papier. Es ist zumindest mir neu, daß die Urteilskraft eines Lesers vorwiegend wirkt, wenn das Primat der Erzählung in einem Text fehlt. Als Wissenschaftler kann man mit Herta Müllers Texten allerdings seine eigene Intelligenz voll ins Rampenlicht rücken. Da ist die Chance zu Wortjonglierereien wie selten geboten und man kann gefahrlos, auch fast wahllos, "Bildschaltstellen oder real-allegorisch-symbolische Kreuzungen" (Stefan Gross) ausmachen oder auch selbst kreieren.
"Der böse Blick verweist auf Verletztheiten und Haßgefühle." (Bernhard Doppler). Extreme Gefühlszustände werden zu Kunstquellen und führen hier zu einer Kunst, die von vielen nicht verstanden wird, nicht verstanden werden kann. Für die Literaturwissenschaftler der Universität Paderborn sowie für viele Rezensenten in Presse und Rundfunk scheint sie geradezu herausfordernd zu sein.
Nur die Landsleute Herta Müllers können sich weiterhin nicht mit dieser Art von Literatur anfreunden. Wen wundert's? Das sind Menschen, deren Leben ein ewiger Kampf ums Heute und ein stetes Vorsorgen fürs Morgen war. Für tiefsinnige Wahrnehmungsirritationen, wie sie in Herta Müllers Prosa sprühen, können sie gar kein Verständnis haben. Sie wären andernfalls wirklich so fatal, wie die Extremfiguren der Müllerschen Texte. Dem Menschenschlag, dem trotz allem auch Herta Müller entstammt, steht nun mal nicht der Sinn nach "ästhetischer Diagnostik", sondern eher nach greif- und überschaubarer Realität. Wer sich mit den Banater Schwaben näher befasst, wird verstehen, warum die wenigen von ihnen, die sich überhaupt mit Herta Müllers Literatur auseinandersetzen, nicht gerade in Lobhymnen schwelgen. Eine zur "Denunziation, mit der ästhetische Diagnostik ausläuft in den Gestus der persönlichen Abrechnung," verkommene Literaturkritik, wie N. O. Eke schreibt, dürften die Herta-Müller-Rezensionen in der BANATER POST und im DONAUSCHWABEN nun doch nicht sein. Bloß der Blickwinkel, aus dem sie verfaßt wurden, ist wahrlich ein anderer als der von bundesdeutschen Rezensenten.
Mark Jahr
aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 24. Januar 1993

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