Donnerstag, 2. Oktober 2025

Über die unendliche Geschichte vom Warten

Nikolaus Wolcz inszenierte in Ingolstadt das Schauspiel 
Warten auf Godot von Samuel Beckett

Wie frustrierend Warten sein kann, wissen auch viele von uns Banater Schwaben. Allzu oft haben wir doch Tag für Tag die Augen geöffnet und unseren ersten Gedanken dem „Briefträger“ gewidmet. Dann kam um die Mittagsstunde die große Enttäuschung. Er ging vorbei oder warf lediglich einen Brief oder die Zeitung in den Postkasten. Die ersehnte berühmt-berüchtigte Karte für die „Kleinen“, die „Großen“ oder gar den Pass bekam der Nachbar, irgendein anderer, vielleicht auch niemand im Dorf. Da gesellte sich zur Enttäuschung oft auch Missgunst und verdrängter Neid, der manchmal sogar Verwandte, Freunde und in Einzelfällen sogar Geschwister traf.

Doch das Leben erhaltende Prinzip Hoffnung gewann meist schon im Laufe des gleichen Nachmittags die Oberhand. Morgen ist ja noch ein Tag! Samuel Beckett (1906 – 1989) hat das Warten als ein universales Phänomen ins Auge gefasst und seine Interpretation in einer manchmal grotesken, dann aber wieder nachvollziehbaren Theaterfassung zu Papier gebracht. Sein Schauspiel Warten auf Godot stand im September und Oktober auf dem Spielplan des Theaters Ingolstadt. Dahin lenkte ich meine Schritte, getrieben von der Neugierde, wie wohl andere mit diesem Leerlaufgefühl, und das noch in zugespitzter Theatermanier, zurechtkommen. Welcher Sinn hat ihr Warten? Die Protagonisten dieses beckettschen Wartens sind zwei wirklich liebenswerte Gestalten: verlumpt, hungrig, mit Schweißfüßen, aus dem Hals riechend und anderen gebrechlichen Tugenden oder tugendhaften Gebrechen. Kurzum, zwei harm- und obdachlose Landstreicher: Estragon, genannt Gogo (Stephan Mertl) und Wladimir, genannt Didi (Friedrich Schilha). Sie warten auf Godot.
Um es vorwegzunehmen: Godot ist bis heute nicht gekommen. Das mag den FAZ-Feuilletonisten Gerhard Stadelmaier vor einem Jahr zur Überschrift seines Aufsatzes inspiriert haben: Komm, wir gehen. Fünfzig Jahre Warten auf Godot. Er meint, der Erfolg dieses Stückes fuße auch darauf, „dass die meisten Regisseure und Schauspieler sowie Literaturwissenschaftler nach Godot fragen, die wenigsten nach Didi und Gogo“.
v.l.: Mehmet Yilmaz (Lucky), Stephan Mertl (Gogo),
Johannes Langer (Pozzo), Friedrich Schilha (Didi) 
 FotoQuelle: "Theter für Ingolstadt, Intendanz Wolfram Krempel"
Also bei der Ingolstädter Wolcz-Inszenierung hatte ich diesen Eindruck nicht. Gott sei‘s Dank! Die zwei verdienen auch wirklich alle Sympathien und fordern manchmal leider auch unsere Anteilnahme heraus. Sie brechen einen Streit aus dem Nichts vom Zaun und versöhnen sich wieder in kindlicher Freude. Gogo erweist sich als Voyeur, während Didi seine dauernd drückende Blase entleert. Wenn dann der machtbesessene Pozzo (Johannes Langer) mit seinem versklavten Hofnarr Lucky (Mehmet Yilmaz) erscheint, ziehen Didi und Gogo alle Register ihrer Auflehnungs- und Anpassungsvariationen. Nachdem Pozzo und Lucky verschwunden sind, geht das lebensnahe Schwanken zwischen Niedergeschlagenheit und Himmelhoch-Jauchzen munter weiter, nur ab und zu unterbrochen von dem Leitmotiv: „Komm, wir gehen. (Gogo) / Wir können nicht. (Didi) / Warum nicht? (Gogo) / Wir warten auf Godot. (Didi).“ Und so warten sie heute noch, immer wieder von einem abends erscheinenden Knaben (Sebastian Singer) dazu ermutigt.
Beckett hat unserem lebenshungrigen und als sinnvoll empfundenen Alltagswarten das sinnlose, nur von vagen Hoffnungen getragene Warten entgegengestellt. Dieses Stück hat Theatergeschichte geschrieben. Es wurde 1953 in Paris uraufgeführt und hat seither die Spielpläne der Theaterhäuser nie verlassen. Schauspieler wie Buster Keaton, Marlon Brando oder Steve McQueen versuchten sich in den Rollen dieses Schauspiels. Nikolaus Wolcz hat damit die Theatersaison 2000/2001 in Ingolstadt eröffnet und gezeigt, dass er nicht nur ein Meister des großen, geschichtsgeschwängerten Gestus ist, sondern auch die kleine Geste wirkungsvoll einsetzen kann. Man muss Didis rollende Augäpfel gesehen und Gogos Schmatzen-Quatschen bei vollen Backen gehört haben.
Alles umsonst. Godot ist nicht gekommen. Warten. Sinnvoll? Sinnlos? Letzteres ist wohl nie vorauszusehen. Also warten auch wir weiter, selbst wenn unser „Briefträger“ schon längst Geschichte ist. Hätte Beckett sich aber nicht des letztendlich absurden Wartens angenommen, wäre sein Stück wohl nie so berühmt geworden.
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 20. November 2000


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