Zehn Jahre nach der Temeswarer Revolution
„Ich
erinnere mich mit einem leichten Schamgefühl, aber auch mit dem
Gefühl, etwas für immer verloren zu haben, an die Art und Weise,
wie ich in den ersten Wochen nach dem Sturz Ceaușescus
von der Revolution sprach. Ich scheute mich nicht, den Fremden
zu erklären – und ich glaube, was ich sage -, dass es seit der
Französischen Revolution keine andere mehr gab, die berechtigter als
die rumänische wäre, als wahre Revolution zu gelten. Es würde mir
schwer fallen, jene romantische Exaltation zu erklären. Naivität?
Die Freude, Ceaușescu los zu
haben? Die Anspannung, in der wir in jenen von Schüssen
durchpeitschten Tagen und Nächten des endenden Jahres 1989 lebten?“
Kein geringerer als Octavian Paler, zurzeit Rumäniens
bekanntester Journalist, begann mit diesen Zweifelsäußerungen den
Leitartikel einer Oktoberausgabe der Wochenzeitung CURENTUL
INTERNAȚIONAL.
„Romantische
Exaltation“? Ich entsinne mich bei dieser Formulierung (rumänisch:
exaltare romantică) geführter Gespräche
mit Landsleuten, die Zeugen der rumänischen Revolution waren. Ja,
sie schwebte im Raum, über den Geburtstagskerzen, den dampfenden
Kaffeetassen und den Tortenschnitten, diese „romantische
Exaltation“. Ich lauschte angespannt dem Redeschwall der Frau, die
am 19. Dezember 1989 voller Angst und Ungewissheit ihren Arbeitsplatz
verließ und es irgendwie schaffte, mit einem der Pendlerzüge nach
Hause zu kommen. In dem trauten Heim in Jahrmarkt fühlte sie sich
zwar geborgen, die Strickerin Anna Streitmatter, die in
der Temeswarer Strumpffabrik ihr Geld verdiente, aber keineswegs
ihrer Sorgen entledigt, denn der jüngste ihrer drei Söhne war
Soldat in einer Temeswarer Einheit, während der älteste schon in
Deutschland lebte; und auch den mittleren konnte in jenen Tagen
nichts in den vier Wänden halten.
Ich
spürte das Mitteilungsbedürfnis der Erzählerin. Ihre Worte waren
Bilder, bewegende Bilder mit einer eigenartigen Authentizität. Das
war diese „romantische Exaltation“, eine merkwürdige
Begeisterung für immerhin wenig erbauliche Gefühlserlebnisse, die
wohl nur von Menschen empfunden werden kann, die große
geschichtliche Ereignisse als ureigenste Erlebniswelt im Gedächtnis
auf Lebzeiten gespeichert haben. Anna Streitmatter konnte ihre
romantische Begeisterung, im Gegensatz zu Octavian Paler, ohne
Einschränkungen über die Zeiten retten, da ihr durch ihre
Auswanderung in die Bundesrepublik viele Enttäuschungen der
rumänischen nachrevolutionären Wehen erspart blieben.
Was
muss das für eine bedrückte Stimmung in Rumänien gewesen sein, in
jenen Vorweihnachtstagen (die es laut staatlicher Lesart doch gar
nicht gab) vor zehn Jahren? Es brodelte makaber in der Gerüchteküche.
Sterben in Temeswar, Terroristen planen einen Angriff auf die
Radarstation bei Jahrmarkt an der Lippaer Landstraße. Angst! Schüsse
wurden gehört, die gar nicht fielen. Was spielt sich da draußen,
außerhalb des Dorfes ab? Niemand konnte sich dem Grauen entziehen.
Alle „mussten“ die Revolution erleben.
Romantische
Begeisterung nach einem Happy End für eine Betroffene. Das ist
einleuchtend und wirft gleichzeitig die Frage nach unserem (den
bereits hier lebenden Rumäniendeutschen) Gefühlsbarometer auf, wo
wir doch die erste „Fernsehrevolution“ der Geschichte aus
sicherer Entfernung in warmen Wohnungen mit vollen Kühlschränken
miterleben „durften“ und dabei glaubten, ein Recht auf emotionale
Beteiligung zu haben, spielte sich diese Revolution doch in unserer
einstigen Heimat ab.
Natürlich
hatten wir dieses Recht auch, und die Erlebnisschwingungen zwischen
dem “Müssen“ unserer Landsleute im damaligen Banat und dem
„Dürfen“ der damals schon in Deutschland lebenden Banater
Schwaben klingt sogar kontrapunktisch im polyphonen Sinn
gleichberechtigter Stimmen. Freilich waren auch wir von den
Ereignissen in Temeswar berührt. Man sprach am Arbeitsplatz darüber,
im Verwandtenkreis, der Fernseher lief stundenlang, man wollte immer
Neues erfahren. Als ich gegen Mitternacht aus der Spätschicht kam,
lag öfters ein Zettel auf dem Tisch: Bayern 1 meldete …, ARD
zeigte …, Radio Bukarest meldete … atmosphärische Störungen …,
ZDF zeigte … Unterschrieben waren diese Zettel alle mit Pussi
Mutti.
War
das Anteilnahme? Ja, auch, aber die war gemixt mit einem guten Schuss
Sensationslust. Trotz unserer vermeintlichen
Stimmengleichberechtigung fühle ich, dass meine
Revolutionserinnerungen und besonders -empfindungen neben den Worten
Frau Streitmatters nur schwer bestehen können. Sie wirken
blass, gekünstelt. Es war nie meine Revolution. Frau Streitmatter
hingegen darf sie auch heute noch für sich in Anspruch nehmen.
Nein,
ich will ihr das natürlich nicht verübeln. Wie könnte ich auch,
rief ihre „romantische Exaltation“ doch in mir so manche (als
Kind) gehörte Schilderung von Krieg und Deportation wach. Sie alle,
die körperlich und seelisch Betroffenen der Kriege, Deportationen
und Revolutionen, haben ein Recht auf „romantische Exaltation“.
Diese leidenschaftliche Erregung kann als Entschädigung für
erfahrenes Leid und unerfüllte Illusionen allein von den
Erlebnisindividuen empfunden werden, und eben darum muss sich niemand
ihrer schämen. Ihr gebührt die Führungsrolle in jedem polyphonen
Revolutionsgesang.
Auch
Octavian Paler ist sich da ganz sicher, obwohl er die bittere
Pille der „gestohlenen Revolution“ schlucken musste: „Aber nie
in den vergangenen zehn Jahren habe ich es bereut, dass ich mich
damals täuschen ließ.“
Mark Jahr
aus BANATER POST, München, 5.Januar 2000
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