Dienstag, 2. April 2024

Im Banne der Erinnerung

 Zehn Jahre nach der Temeswarer Revolution

Ich erinnere mich mit einem leichten Schamgefühl, aber auch mit dem Gefühl, etwas für immer verloren zu haben, an die Art und Weise, wie ich in den ersten Wochen nach dem Sturz Ceaușescus von der Revolution sprach. Ich scheute mich nicht, den Fremden zu erklären – und ich glaube, was ich sage -, dass es seit der Französischen Revolution keine andere mehr gab, die berechtigter als die rumänische wäre, als wahre Revolution zu gelten. Es würde mir schwer fallen, jene romantische Exaltation zu erklären. Naivität? Die Freude, Ceaușescu los zu haben? Die Anspannung, in der wir in jenen von Schüssen durchpeitschten Tagen und Nächten des endenden Jahres 1989 lebten?“ Kein geringerer als Octavian Paler, zurzeit Rumäniens bekanntester Journalist, begann mit diesen Zweifelsäußerungen den Leitartikel einer Oktoberausgabe der Wochenzeitung CURENTUL INTERNAȚIONAL.
„Romantische Exaltation“? Ich entsinne mich bei dieser Formulierung (rumänisch: exaltare romantică) geführter Gespräche mit Landsleuten, die Zeugen der rumänischen Revolution waren. Ja, sie schwebte im Raum, über den Geburtstagskerzen, den dampfenden Kaffeetassen und den Tortenschnitten, diese „romantische Exaltation“. Ich lauschte angespannt dem Redeschwall der Frau, die am 19. Dezember 1989 voller Angst und Ungewissheit ihren Arbeitsplatz verließ und es irgendwie schaffte, mit einem der Pendlerzüge nach Hause zu kommen. In dem trauten Heim in Jahrmarkt fühlte sie sich zwar geborgen, die Strickerin Anna Streitmatter, die in der Temeswarer Strumpffabrik ihr Geld verdiente, aber keineswegs ihrer Sorgen entledigt, denn der jüngste ihrer drei Söhne war Soldat in einer Temeswarer Einheit, während der älteste schon in Deutschland lebte; und auch den mittleren konnte in jenen Tagen nichts in den vier Wänden halten.
Ich spürte das Mitteilungsbedürfnis der Erzählerin. Ihre Worte waren Bilder, bewegende Bilder mit einer eigenartigen Authentizität. Das war diese „romantische Exaltation“, eine merkwürdige Begeisterung für immerhin wenig erbauliche Gefühlserlebnisse, die wohl nur von Menschen empfunden werden kann, die große geschichtliche Ereignisse als ureigenste Erlebniswelt im Gedächtnis auf Lebzeiten gespeichert haben. Anna Streitmatter konnte ihre romantische Begeisterung, im Gegensatz zu Octavian Paler, ohne Einschränkungen über die Zeiten retten, da ihr durch ihre Auswanderung in die Bundesrepublik viele Enttäuschungen der rumänischen nachrevolutionären Wehen erspart blieben.
Was muss das für eine bedrückte Stimmung in Rumänien gewesen sein, in jenen Vorweihnachtstagen (die es laut staatlicher Lesart doch gar nicht gab) vor zehn Jahren? Es brodelte makaber in der Gerüchteküche. Sterben in Temeswar, Terroristen planen einen Angriff auf die Radarstation bei Jahrmarkt an der Lippaer Landstraße. Angst! Schüsse wurden gehört, die gar nicht fielen. Was spielt sich da draußen, außerhalb des Dorfes ab? Niemand konnte sich dem Grauen entziehen. Alle „mussten“ die Revolution erleben.
Romantische Begeisterung nach einem Happy End für eine Betroffene. Das ist einleuchtend und wirft gleichzeitig die Frage nach unserem (den bereits hier lebenden Rumäniendeutschen) Gefühlsbarometer auf, wo wir doch die erste „Fernsehrevolution“ der Geschichte aus sicherer Entfernung in warmen Wohnungen mit vollen Kühlschränken miterleben „durften“ und dabei glaubten, ein Recht auf emotionale Beteiligung zu haben, spielte sich diese Revolution doch in unserer einstigen Heimat ab.
Natürlich hatten wir dieses Recht auch, und die Erlebnisschwingungen zwischen dem “Müssen“ unserer Landsleute im damaligen Banat und dem „Dürfen“ der damals schon in Deutschland lebenden Banater Schwaben klingt sogar kontrapunktisch im polyphonen Sinn gleichberechtigter Stimmen. Freilich waren auch wir von den Ereignissen in Temeswar berührt. Man sprach am Arbeitsplatz darüber, im Verwandtenkreis, der Fernseher lief stundenlang, man wollte immer Neues erfahren. Als ich gegen Mitternacht aus der Spätschicht kam, lag öfters ein Zettel auf dem Tisch: Bayern 1 meldete …, ARD zeigte …, Radio Bukarest meldete … atmosphärische Störungen …, ZDF zeigte … Unterschrieben waren diese Zettel alle mit Pussi Mutti.
War das Anteilnahme? Ja, auch, aber die war gemixt mit einem guten Schuss Sensationslust. Trotz unserer vermeintlichen Stimmengleichberechtigung fühle ich, dass meine Revolutionserinnerungen und besonders -empfindungen neben den Worten Frau Streitmatters nur schwer bestehen können. Sie wirken blass, gekünstelt. Es war nie meine Revolution. Frau Streitmatter hingegen darf sie auch heute noch für sich in Anspruch nehmen.
Nein, ich will ihr das natürlich nicht verübeln. Wie könnte ich auch, rief ihre „romantische Exaltation“ doch in mir so manche (als Kind) gehörte Schilderung von Krieg und Deportation wach. Sie alle, die körperlich und seelisch Betroffenen der Kriege, Deportationen und Revolutionen, haben ein Recht auf „romantische Exaltation“. Diese leidenschaftliche Erregung kann als Entschädigung für erfahrenes Leid und unerfüllte Illusionen allein von den Erlebnisindividuen empfunden werden, und eben darum muss sich niemand ihrer schämen. Ihr gebührt die Führungsrolle in jedem polyphonen Revolutionsgesang. 
Auch Octavian Paler ist sich da ganz sicher, obwohl er die bittere Pille der „gestohlenen Revolution“ schlucken musste: „Aber nie in den vergangenen zehn Jahren habe ich es bereut, dass ich mich damals täuschen ließ.“
Mark Jahr

aus BANATER POST, München, 5.Januar 2000


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