Donnerstag, 5. Oktober 2023

Hans-Dietrich Genscher, ein Architekt der Deutschen Einheit, erinnert sich

 Zur Neuerscheinung Erinnerungen des ehemaligen Außenministers

Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen; Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1997; 1087 Seiten; ISBN 3-442-12759-9; 29,90 DM (das Buch ist noch bei Online-Händlern auf Lager).
Herbstzeit ist Erntezeit, nicht nur für die Gaben der Natur, sondern auch für Freiheitssehnsüchte. Wir Deutschen dürfen seit dem 3. Oktober 1990 alljährlich das Erntefest der Freiheit feiern. Wie wir das tun, bleibt jedem von uns selbst überlassen, was schon an sich ein Ausdruck der Freiheit ist. Für viele unter uns bedeutet dieser Tag der Deutschen Einheit ein Aufbruch in ein neues, von sozialistischer Vormundschaft befreites Dasein. Das Volk der DDR hat durch seine friedliche Revolution die verheerenden Fehler der Geschichte korrigiert.
Dass Revolutionen nicht unbedingt nur mit Blut und Barrikaden ihre Ziele anstreben müssen, hat dieses ausklingende Jahrhundert uns zum Glück nach zwei Weltkriegen noch erleben lassen. Die Umstände für eine solch friedliche Revolution müssen allerdings erst mal vorhanden sein. Sie wiederum sind ein Produkt politischer Diplomatie, also das Resultat jahrelangen zähen Ringens um ein in Europa trotz des Eisernen Vorhangs andauernden Friedens. Einer der unermüdlichsten Kämpfer für ein vereintes Deutschland in einem befriedeten Europa ist Hans-Dietrich Genscher. Sein Name kann nicht übersehen werden, wenn die Geschichte von den Wegbereitern der Deutschen Einheit berichtet.
Am 30. September 1989 erschien der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag und sprach die historischen Worte zu den im Hof versammelten DDR-Flüchtlingen: „Liebe Landsleute … Wir sind zu Ihnen gekommen ...“ Aber er rief auch in die nach Freiheit lechzende Menge: „Sind denn auch Hallenser da?“ Es dürfte gerade diese Frage sein, die besondere Neugierde auf die Erinnerungen Hans-Dietrich Genschers weckt, beinhaltet sie doch den Hinweis auf ein stark ausgeprägtes Heimat(verlust)gefühl des Menschen Genscher, denn schließlich und endlich sprach er diese Worte in der „bewegendsten Stunde“ seines politischen Lebens.
Wie eng die Biographie Genschers mit seinem politischen Handeln verzahnt ist, entschlüsselt dieses Buch. Als Jahrgang 1927 erlebt er die letzten Kriegstage als siebzehnjähriger Pionier in der 12. Armee des Generals Wenck. Nach dem Krieg studiert er Jura und wird in seiner Heimatstadt Halle / Sachsen-Anhalt Mitglied der LDPD (Liberaldemokratische Partei Deutschlands). 1952 verlässt Hans-Dietrich Genscher die DDR und geht nach Bremen, wo er Mitglied der F.D.P. wird. Eine beispiellose politische Karriere hatte ihren Anfang genommen. Sie Endete 1992, nach fünfjähriger Amtszeit als Innenminister und sage und schreibe achtzehn (18) Jahren als Außenminister.
Auch unser Aussiedlerschicksal tangiert die biographischen Lebenserfahrungen und politischen Aktivitäten des Menschen und Staatsmannes Hans-Dietrich Genscher. Schon im ersten Kapitel dieses 1087 Seiten umfassenden Memoirenwerkes erfahren wir, dass 1937 im Hause Genscher die aus Siebenbürgen stammende achtzehnjährige Lehrerseminaristin Marianne Bedners als Haushaltsgehilfin lebte und dabei „viel von ihrer Heimat in Siebenbürgen erzählte“, was natürlich bei dem späteren Innenminister zur Sensibilisierung für die Probleme der Auslandsdeutschen beitrug. Dazu gesellte sich noch der Umstand, dass Genscher in seiner Eigenschaft als Innenminister seit 1969 auch dem Vertriebenenministerium vorstand und ihm „die Betreuung der Deutschen in Siebenbürgen und im Banat“ oblag. Bereits 1971 weilte er zum ersten Mal in Bukarest und machte einschlägige Erfahrungen mit dem kommunistischen System in Rumänien. 
Die diplomatischen Beziehungen zu Rumänien wurden unter Genscher sukzessive ausgebaut. Und das hatte seinen guten Grund: „In den Beziehungen mit Rumänien ging es vor allem um die Ausreisemöglichkeiten für die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben. Wir mussten Ceaușescu, der sich die Ausreise auch noch bezahlen ließ, bei Laune halten.“ 
Hans-Dietrich Genschers Biographie ist eng mit der deutschen Vertriebenengeschichte verknüpft – ist seine Frau doch eine Schlesierin -, und was der Außenminister in sein politisches Credo mit einbezogen hat, ist eben das Verhalten dieser Volksgruppen nach ihrer Vertreibung. „In ihrer Charta hatten sich die Vertriebenen frühzeitig zur Friedensverantwortung der Deutschen bekannt und neues Unrecht abgelehnt“, schreibt Genscher.
Der unbedingte Wille zum Frieden ist nur einer der vielen Grundsätze, von denen der deutsche Außenminister sich leiten ließ, um seine hehren Ziele zu erreichen. Diesem Mann wurde weltweit vertraut. Sein Wort war Wahrheit. „Ein Außenminister, der seine Zusagen – seien sie formell oder informell, schriftlich oder mündlich, im Delegationsgespräch gegeben – nicht einhalten kann, sollte unverzüglich zurücktreten.“
Wer dieses Buch aufmerksam liest, kann sich eine Vorstellung von dem Arbeitsaufwand eines Innen- und Außenministers machen. Das ist oft harte, bis an die physischen und psychischen Grenzen des Betroffenen reichende Kärrnerarbeit. Auch ein so einzigartiges Politikerleben wie das Genschers blieb nicht von Misserfolgen verschont. Aber davon spricht der Autobiograph kaum. Es überwiegt die Dankbarkeit, in den großen Augenblicken der Geschichte dabei gewesen zu sein, in vorderster Reihe, beratend und gestaltend.
Haben in einem solchen, von dauernder, manchmal bestimmt auch belästigender Öffentlichkeit geprägten Dasein auch noch anekdotische Spielräume Entfaltungsmöglichkeiten, ist man verleitet zu fragen. Natürlich. Sie sind es doch, die uns Einblicke hinter die Politikkulissen gewähren und Menschen wie du und ich zum Vorschein bringen. Und wenn die dann auch noch mit einem guten Schuss Humor ausgestattet sind, dann neigen wir als Leser schnell zu Sympathiebekundungen. Genscher scheint bei aller Ernsthaftigkeit seines Wirkens kein Mann von Traurigkeit gewesen zu sein, wo er doch mit lockerer Schrift berichtet: „Bei der Vorliebe, die Ronald Reagen und ich für den Austausch von Witzen hegten, konnte es nicht ausbleiben, dass wir uns gegenseitig mit einem zusätzlichen Vorrat versorgten. Ich erinnere mich, dass ich später Witze hörte, die Reagen zugeschrieben wurden, aber eigentlich auf unser damaliges Gespräch zurückgingen.“
Es sind die Züge des Menschlichen, die Hans-Dietrich Genschers Politik geprägt haben. Das erkennt man jetzt in seinen immer wiederkehrenden Rückbesinnungen, die seine Taten von einer höheren Warte aus zu legitimieren scheinen. Der Begriff Heimat spielt darin die entscheidende Rolle und transportiert eine identitätsstiftende Botschaft: Das Elternhaus, der Ort der Kindheit, die Region der Jugend rückt für jedes Individuum zum rechtmäßigen Mittelpunkt des Universums auf. Für die Freiheit dieses für jeden einzelnen geographisch festlegbaren Ortes lohnt es sich zu kämpfen. Ein offenes, ehrliches Bekenntnis zu ihm gibt dem Menschen die identitätsstiftende Kraft, ein kreatives Mitglied der Gesellschaft , in der er gerade lebt, zu sein.
Diese Reminiszenzen begleiten Genschers Memoiren wie ein roter Faden von der ersten bis zur letzten Seite und finden in den Schilderungen zu einem gemeinsamen Besuch Gorbatschows und Kissingers im Dezember 1993 in Halle ihre Krönung: „Der Kreis schließt sich. In Halle vollendete sich, was lange ersehnt und erhofft worden war. […] So war dieses Dezemberwochenende 1993 für mich in gewisser Weise die Krönung meiner politischen Arbeit; dass ich ihre Vollendung miterleben konnte, wird mich immer mit großer Dankbarkeit erfüllen.“
Auf unserem Gabentisch sollten die Erinnerungen Hans-Dietrich Genschers nicht fehlen.
Anton Potche


aus BANATER POST, München, 20. Oktober 1999


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