Zur
Neuerscheinung Erinnerungen des ehemaligen Außenministers
Hans-Dietrich
Genscher: Erinnerungen; Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1997; 1087
Seiten; ISBN 3-442-12759-9; 29,90 DM (das Buch ist noch bei
Online-Händlern auf Lager).
Herbstzeit
ist Erntezeit, nicht nur für die Gaben der Natur, sondern auch für
Freiheitssehnsüchte. Wir Deutschen dürfen seit dem 3. Oktober 1990
alljährlich das Erntefest der Freiheit feiern. Wie wir das tun,
bleibt jedem von uns selbst überlassen, was schon an sich ein
Ausdruck der Freiheit ist. Für viele unter uns bedeutet dieser Tag
der Deutschen Einheit ein Aufbruch in ein neues, von sozialistischer
Vormundschaft befreites Dasein. Das Volk der DDR hat durch seine
friedliche Revolution die verheerenden Fehler der Geschichte
korrigiert.
Dass
Revolutionen nicht unbedingt nur mit Blut und Barrikaden ihre Ziele
anstreben müssen, hat dieses ausklingende Jahrhundert uns zum Glück
nach zwei Weltkriegen noch erleben lassen. Die Umstände für eine
solch friedliche Revolution müssen allerdings erst mal vorhanden
sein. Sie wiederum sind ein Produkt politischer Diplomatie, also das
Resultat jahrelangen zähen Ringens um ein in Europa trotz des
Eisernen Vorhangs andauernden Friedens. Einer der unermüdlichsten
Kämpfer für ein vereintes Deutschland in einem befriedeten Europa
ist Hans-Dietrich Genscher. Sein Name kann nicht übersehen
werden, wenn die Geschichte von den Wegbereitern der Deutschen
Einheit berichtet.
Am
30. September 1989 erschien der Außenminister der Bundesrepublik
Deutschland auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag und sprach
die historischen Worte zu den im Hof versammelten DDR-Flüchtlingen:
„Liebe Landsleute … Wir sind zu Ihnen gekommen ...“ Aber er
rief auch in die nach Freiheit lechzende Menge: „Sind denn auch
Hallenser da?“ Es dürfte gerade diese Frage sein, die besondere
Neugierde auf die Erinnerungen Hans-Dietrich Genschers
weckt, beinhaltet sie doch den Hinweis auf ein stark ausgeprägtes
Heimat(verlust)gefühl des Menschen Genscher, denn schließlich
und endlich sprach er diese Worte in der „bewegendsten Stunde“
seines politischen Lebens.
Wie eng die Biographie Genschers mit seinem politischen Handeln
verzahnt ist, entschlüsselt dieses Buch. Als Jahrgang 1927 erlebt er
die letzten Kriegstage als siebzehnjähriger Pionier in der 12. Armee
des Generals Wenck. Nach dem Krieg studiert er Jura und wird
in seiner Heimatstadt Halle / Sachsen-Anhalt Mitglied der LDPD
(Liberaldemokratische Partei Deutschlands). 1952 verlässt
Hans-Dietrich Genscher die DDR und geht nach Bremen, wo er
Mitglied der F.D.P. wird. Eine beispiellose politische Karriere hatte
ihren Anfang genommen. Sie Endete 1992, nach fünfjähriger Amtszeit
als Innenminister und sage und schreibe achtzehn (18) Jahren als
Außenminister.
Auch
unser Aussiedlerschicksal tangiert die biographischen
Lebenserfahrungen und politischen Aktivitäten des Menschen und
Staatsmannes Hans-Dietrich Genscher. Schon im ersten Kapitel
dieses 1087 Seiten umfassenden Memoirenwerkes erfahren wir, dass 1937
im Hause Genscher die aus Siebenbürgen stammende achtzehnjährige
Lehrerseminaristin Marianne Bedners als Haushaltsgehilfin
lebte und dabei „viel von ihrer Heimat in Siebenbürgen erzählte“,
was natürlich bei dem späteren Innenminister zur Sensibilisierung
für die Probleme der Auslandsdeutschen beitrug. Dazu gesellte sich
noch der Umstand, dass Genscher in seiner Eigenschaft als
Innenminister seit 1969 auch dem Vertriebenenministerium vorstand und
ihm „die Betreuung der Deutschen in Siebenbürgen und im Banat“
oblag. Bereits 1971 weilte er zum ersten Mal in Bukarest und machte
einschlägige Erfahrungen mit dem kommunistischen System in Rumänien.
Die
diplomatischen Beziehungen zu Rumänien wurden unter Genscher
sukzessive ausgebaut. Und das hatte seinen guten Grund: „In den
Beziehungen mit Rumänien ging es vor allem um die
Ausreisemöglichkeiten für die Siebenbürger Sachsen und die Banater
Schwaben. Wir mussten Ceaușescu, der sich
die Ausreise auch noch bezahlen ließ, bei Laune halten.“
Hans-Dietrich
Genschers Biographie ist eng mit der deutschen
Vertriebenengeschichte verknüpft – ist seine Frau doch eine
Schlesierin -, und was der Außenminister in sein politisches Credo
mit einbezogen hat, ist eben das Verhalten dieser Volksgruppen nach
ihrer Vertreibung. „In ihrer Charta hatten sich die Vertriebenen
frühzeitig zur Friedensverantwortung der Deutschen bekannt und neues
Unrecht abgelehnt“, schreibt Genscher.
Der
unbedingte Wille zum Frieden ist nur einer der vielen Grundsätze,
von denen der deutsche Außenminister sich leiten ließ, um seine
hehren Ziele zu erreichen. Diesem Mann wurde weltweit vertraut. Sein
Wort war Wahrheit. „Ein Außenminister, der seine Zusagen – seien
sie formell oder informell, schriftlich oder mündlich, im
Delegationsgespräch gegeben – nicht einhalten kann, sollte
unverzüglich zurücktreten.“
Wer
dieses Buch aufmerksam liest, kann sich eine Vorstellung von dem
Arbeitsaufwand eines Innen- und Außenministers machen. Das ist oft
harte, bis an die physischen und psychischen Grenzen des Betroffenen
reichende Kärrnerarbeit. Auch ein so einzigartiges Politikerleben
wie das Genschers blieb nicht von Misserfolgen verschont. Aber
davon spricht der Autobiograph kaum. Es überwiegt die Dankbarkeit,
in den großen Augenblicken der Geschichte dabei gewesen zu sein, in
vorderster Reihe, beratend und gestaltend.
Haben
in einem solchen, von dauernder, manchmal bestimmt auch belästigender
Öffentlichkeit geprägten Dasein auch noch anekdotische Spielräume
Entfaltungsmöglichkeiten, ist man verleitet zu fragen. Natürlich.
Sie sind es doch, die uns Einblicke hinter die Politikkulissen
gewähren und Menschen wie du und ich zum Vorschein bringen. Und wenn
die dann auch noch mit einem guten Schuss Humor ausgestattet sind,
dann neigen wir als Leser schnell zu Sympathiebekundungen. Genscher
scheint bei aller Ernsthaftigkeit seines Wirkens kein Mann von
Traurigkeit gewesen zu sein, wo er doch mit lockerer Schrift
berichtet: „Bei der Vorliebe, die Ronald Reagen und ich für den
Austausch von Witzen hegten, konnte es nicht ausbleiben, dass wir uns
gegenseitig mit einem zusätzlichen Vorrat versorgten. Ich erinnere
mich, dass ich später Witze hörte, die Reagen zugeschrieben wurden,
aber eigentlich auf unser damaliges Gespräch zurückgingen.“
Es
sind die Züge des Menschlichen, die Hans-Dietrich Genschers
Politik geprägt haben. Das erkennt man jetzt in seinen immer
wiederkehrenden Rückbesinnungen, die seine Taten von einer höheren
Warte aus zu legitimieren scheinen. Der Begriff Heimat spielt darin
die entscheidende Rolle und transportiert eine identitätsstiftende
Botschaft: Das Elternhaus, der Ort der Kindheit, die Region der
Jugend rückt für jedes Individuum zum rechtmäßigen Mittelpunkt
des Universums auf. Für die Freiheit dieses für jeden einzelnen
geographisch festlegbaren Ortes lohnt es sich zu kämpfen. Ein
offenes, ehrliches Bekenntnis zu ihm gibt dem Menschen die
identitätsstiftende Kraft, ein kreatives Mitglied der Gesellschaft ,
in der er gerade lebt, zu sein.
Diese
Reminiszenzen begleiten Genschers Memoiren wie ein roter Faden
von der ersten bis zur letzten Seite und finden in den Schilderungen
zu einem gemeinsamen Besuch Gorbatschows und Kissingers
im Dezember 1993 in Halle ihre Krönung: „Der Kreis schließt sich.
In Halle vollendete sich, was lange ersehnt und erhofft worden war.
[…] So war dieses Dezemberwochenende 1993 für mich in gewisser
Weise die Krönung meiner politischen Arbeit; dass ich ihre
Vollendung miterleben konnte, wird mich immer mit großer Dankbarkeit
erfüllen.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen