Zu einem Konzert von Johann
Michael Haydn
(1737 – 1896)
Also
mache ich an diesem Sonntag doch, was man eigentlich nicht tun
sollte; ich begebe mich in ein Konzert mit der Erwartung, mir
vertraute Musikklänge, wenn auch nur andeutungsweise, zu vernehmen.
Man wird bei einem solchen Unterfangen meist enttäuscht, es sei
denn, die Titel der Stücke deuten auf die erwarteten Motive hin.
Bartóks Rumänische Tänze, Brahms Ungarische
Tänze oder die Strauss-Walzer könnten als solche Beispiele
genannt werden.
Nun
sitze ich da unter dem monumentalen Deckengemälde Cosmas Damian
Asams in der Kirche Maria de Victoria (Ingolstadt) und versinke
in die barocken Harmonien, entferne mich von allem Gegenständlichen
und bleibe nur Geist, der dann beliebig, ohne jedwelche Raum- und
Zeitrestriktionen, umherzuspringen beginnt. Ein tolles Gefühl der
absoluten Losgelöstheit, der materie- und zeitlosen Freiheit befällt
mich.
„Das
hübsche Konzert C-Dur in der exquisiten Besetzung Viola,
Orgel und Orchester, das Johann Michael Haydn um 1760 als
Kapellmeister am Hofe des Bischofs von Großwardein schrieb, trägt
Züge eines Jugendwerks: frische Themenerfindung und eine schier
überschäumende Musizierkunst verbinden sich mit satztechnischer
Gewandtheit. Stilistisch handelt es sich um ein Werk des Übergangs,
welches klassische Periodik und Kantabilität neben eher barockes
Figurenwerk stellt.“ Diese Programmerläuterung hat mich hierher
gelockt, mit besonderen Erwartungen hierher gelockt. Aber dann: kein
ungarischer Einfluss, kein rumänischer Einfluss. Nur Klassik und
Barock.
Spätestens
im Adagio sind meine Gedanken längst unterwegs. Diese weich
schwingenden Violaklänge. Ist das Trauer? Oder nur Sehnsucht? Nach
was wohl? Ich hebe den Blick. Der Mann ist mir bekannt, dieser Mann,
der die Viola mit einer Inbrunst streichelt, als wäre sie sein
einziger Lebenssinn.
Wenn
ich meine Schwiegereltern in dem renovierten Altbau aus den dreißiger
Jahren besuche und im Treppenhaus über uns die alte Holztreppe
plötzlich unter einem schweren Schritt zu ächzen beginnt, dann
huscht über das Gesicht meines Schwiegervaters ein verständliches
Lächeln, und er sagt dabei seit Jahren immer das Gleiche: „Der
Maistro kommt.“ Und er meint den Mann, der hier nach Johann
Michael Haydns Vorgabe eine Geschichte erzählt, die nur wenige
Menschen in dem vollbesetzten Kirchenraum erahnen, und die in ihren
biographischen Details bestimmt nur im Herzen des Viola-Spielers
klare Konturen annimmt.
Hat
er vielleicht Heimweh, der Viola-Spieler Nodar Ivania (Foto), den
meine Schwiegereltern voller Ehrfurcht „Maistro“ nennen? Das
Heimweh ist daheim in ihrem Haus. Und es hat viele Gesichter.
Da
werden im Erdgeschoss Kartonschachteln mit Bedürfnissen des Alltags
gefüllt, um bald auf den Weg nach Jahrmarkt ins Banat geschickt zu
werden. Jahrmarkt? Ein Gedächtnisname. Giarmata wird auf die
Schachteln geschrieben. Ein Stockwerk höher weigert sich die kleine,
gesprächige, von allen im Haus geliebte Songül mit ihrem
akzentfreien Bayrisch, ihre Eltern in die Türkei zu begleiten. „Was
soll ich dort unter den Fremden?“, fragt sie trotzig; doch diesmal
in unmissverständlichem Türkisch. Über Songül wohnt der
„Maistro“. Das Begleitheft zur Ingolstädter
Orgelmatinee in der Asamkirche Maria de Victoria, vom 4. April bis
10. Oktober 1999, jeden Sonntag um Zwölf gibt Auskunft: „Nodar
Ivania, geboren 1945 in Tiflis/Georgien. Violin- und Violastudium an
der Hochschule Tiflis in der Klasse von Prof. Schanidse. Seit 1964
Dozent, seit 1986 Professor für Violine und Viola an der
Musikhochschule Tiflis. Preisträger mehrerer Wettbewerbe. Gewann als
Mitglied des Georgischen Staatsquartetts den Internationalen
Quartettwettbewerb in Budapest. Dozent an der David-Oistrach-Akademie
in Ingolstadt.“
Denkt
er, wenn er spielt? Vielleicht nicht. Aber er fühlt, der „Maistro“,
sonst könnte er andere nicht bewegen. Seine Saitenklänge bringen
einen Schmelztiegel der Erinnerungen zum sieden. Ich schließe die
Augen und sehe die Stadt: Gebäude, Straßenbahnen, Parkanlagen,
Uniformen. Die Stadt heißt Großwardein. Großwardein? Ich lernte
sie schon 1974, als ich dort meinen Militärdienst leistete, nur noch
als Oradea kennen.
Auch
J. M. Haydn mag durch einige dieser Straßen geschritten sein,
damals anno 1760. Vielleicht hatte er Heimweh, Heimweh nach Rohrau an
der Leitha, und vielleicht griff er zur Feder und ließ dieses Weh in
Linien und Zwischenräume fließen.
Concerto
C-Dur für Viola, Orgel, Streicher und Basso continuo füllt den
Raum aus, beherrscht alles, was in ihm atmet, und ruft ein
himmlisches Chaos der Gefühle hervor. Ich habe meine Erwartungen
längst vergessen – war das nicht kleingeistiger Lokal- oder
bestenfalls Regionalpatriotismus? - und bin dankbar für diese
Augenblicke.
Musik
kommt ganz und gar ohne geographische oder nationale Bezüge aus,
könnte man meinen. Falsch! Kunstströmungen wie Klassik und Barock
haben durchaus auch etwas mit Orten und Regionen zu tun. Wenn J.
M. Haydn dieses Werk auch in der Fremde geschrieben hat, so
transportiert es trotzdem regionale Kunstmerkmale. Die sind aber
nicht dem Einfluss der Entstehungsregion entsprungen, sondern eher im
vermeintlichen Heimweh des Komponisten zu suchen, also an Orten und
in Gegenden, in denen Klassik und Barock blühten. Heimweh verträgt keine
Universalität, obwohl es überall auf der Welt zu Hause ist.
Es
schöpft sein Berechtigungsdasein aus der Überschaubarkeit der
Räume, dem Ort und der Region. Wozu dient uns dann die so oft
zitierte Einzigartigkeit der Musik als universelle Sprache? Das obige
Beispiel zeigt es: Um eben ähnliche Gefühle über alle Zeit-, Raum-
und Sprachbarrieren hinweg ausdrücken zu können.
Mark Jahr
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