Dienstag, 4. Juli 2023

Assoziative Meditationen

 Zu einem Konzert von Johann Michael Haydn 
(1737 – 1896)
Also mache ich an diesem Sonntag doch, was man eigentlich nicht tun sollte; ich begebe mich in ein Konzert mit der Erwartung, mir vertraute Musikklänge, wenn auch nur andeutungsweise, zu vernehmen. Man wird bei einem solchen Unterfangen meist enttäuscht, es sei denn, die Titel der Stücke deuten auf die erwarteten Motive hin. Bartóks Rumänische Tänze, Brahms Ungarische Tänze oder die Strauss-Walzer könnten als solche Beispiele genannt werden.
Nun sitze ich da unter dem monumentalen Deckengemälde Cosmas Damian Asams in der Kirche Maria de Victoria (Ingolstadt) und versinke in die barocken Harmonien, entferne mich von allem Gegenständlichen und bleibe nur Geist, der dann beliebig, ohne jedwelche Raum- und Zeitrestriktionen, umherzuspringen beginnt. Ein tolles Gefühl der absoluten Losgelöstheit, der materie- und zeitlosen Freiheit befällt mich.
Das hübsche Konzert C-Dur in der exquisiten Besetzung Viola, Orgel und Orchester, das Johann Michael Haydn um 1760 als Kapellmeister am Hofe des Bischofs von Großwardein schrieb, trägt Züge eines Jugendwerks: frische Themenerfindung und eine schier überschäumende Musizierkunst verbinden sich mit satztechnischer Gewandtheit. Stilistisch handelt es sich um ein Werk des Übergangs, welches klassische Periodik und Kantabilität neben eher barockes Figurenwerk stellt.“ Diese Programmerläuterung hat mich hierher gelockt, mit besonderen Erwartungen hierher gelockt. Aber dann: kein ungarischer Einfluss, kein rumänischer Einfluss. Nur Klassik und Barock.
Spätestens im Adagio sind meine Gedanken längst unterwegs. Diese weich schwingenden Violaklänge. Ist das Trauer? Oder nur Sehnsucht? Nach was wohl? Ich hebe den Blick. Der Mann ist mir bekannt, dieser Mann, der die Viola mit einer Inbrunst streichelt, als wäre sie sein einziger Lebenssinn.
Wenn ich meine Schwiegereltern in dem renovierten Altbau aus den dreißiger Jahren besuche und im Treppenhaus über uns die alte Holztreppe plötzlich unter einem schweren Schritt zu ächzen beginnt, dann huscht über das Gesicht meines Schwiegervaters ein verständliches Lächeln, und er sagt dabei seit Jahren immer das Gleiche: „Der Maistro kommt.“ Und er meint den Mann, der hier nach Johann Michael Haydns Vorgabe eine Geschichte erzählt, die nur wenige Menschen in dem vollbesetzten Kirchenraum erahnen, und die in ihren biographischen Details bestimmt nur im Herzen des Viola-Spielers klare Konturen annimmt.
Hat er vielleicht Heimweh, der Viola-Spieler Nodar Ivania (Foto), den meine Schwiegereltern voller Ehrfurcht „Maistro“ nennen? Das Heimweh ist daheim in ihrem Haus. Und es hat viele Gesichter.
Da werden im Erdgeschoss Kartonschachteln mit Bedürfnissen des Alltags gefüllt, um bald auf den Weg nach Jahrmarkt ins Banat geschickt zu werden. Jahrmarkt? Ein Gedächtnisname. Giarmata wird auf die Schachteln geschrieben. Ein Stockwerk höher weigert sich die kleine, gesprächige, von allen im Haus geliebte Songül mit ihrem akzentfreien Bayrisch, ihre Eltern in die Türkei zu begleiten. „Was soll ich dort unter den Fremden?“, fragt sie trotzig; doch diesmal in unmissverständlichem Türkisch. Über Songül wohnt der „Maistro“. Das Begleitheft zur Ingolstädter Orgelmatinee in der Asamkirche Maria de Victoria, vom 4. April bis 10. Oktober 1999, jeden Sonntag um Zwölf gibt Auskunft: „Nodar Ivania, geboren 1945 in Tiflis/Georgien. Violin- und Violastudium an der Hochschule Tiflis in der Klasse von Prof. Schanidse. Seit 1964 Dozent, seit 1986 Professor für Violine und Viola an der Musikhochschule Tiflis. Preisträger mehrerer Wettbewerbe. Gewann als Mitglied des Georgischen Staatsquartetts den Internationalen Quartettwettbewerb in Budapest. Dozent an der David-Oistrach-Akademie in Ingolstadt.“
Denkt er, wenn er spielt? Vielleicht nicht. Aber er fühlt, der „Maistro“, sonst könnte er andere nicht bewegen. Seine Saitenklänge bringen einen Schmelztiegel der Erinnerungen zum sieden. Ich schließe die Augen und sehe die Stadt: Gebäude, Straßenbahnen, Parkanlagen, Uniformen. Die Stadt heißt Großwardein. Großwardein? Ich lernte sie schon 1974, als ich dort meinen Militärdienst leistete, nur noch als Oradea kennen.
Auch J. M. Haydn mag durch einige dieser Straßen geschritten sein, damals anno 1760. Vielleicht hatte er Heimweh, Heimweh nach Rohrau an der Leitha, und vielleicht griff er zur Feder und ließ dieses Weh in Linien und Zwischenräume fließen.
Concerto C-Dur für Viola, Orgel, Streicher und Basso continuo füllt den Raum aus, beherrscht alles, was in ihm atmet, und ruft ein himmlisches Chaos der Gefühle hervor. Ich habe meine Erwartungen längst vergessen – war das nicht kleingeistiger Lokal- oder bestenfalls Regionalpatriotismus? - und bin dankbar für diese Augenblicke.
Musik kommt ganz und gar ohne geographische oder nationale Bezüge aus, könnte man meinen. Falsch! Kunstströmungen wie Klassik und Barock haben durchaus auch etwas mit Orten und Regionen zu tun. Wenn J. M. Haydn dieses Werk auch in der Fremde geschrieben hat, so transportiert es trotzdem regionale Kunstmerkmale. Die sind aber nicht dem Einfluss der Entstehungsregion entsprungen, sondern eher im vermeintlichen Heimweh des Komponisten zu suchen, also an Orten und in Gegenden, in denen Klassik und Barock blühten. Heimweh verträgt keine Universalität, obwohl es überall auf der Welt zu Hause ist.
Es schöpft sein Berechtigungsdasein aus der Überschaubarkeit der Räume, dem Ort und der Region. Wozu dient uns dann die so oft zitierte Einzigartigkeit der Musik als universelle Sprache? Das obige Beispiel zeigt es: Um eben ähnliche Gefühle über alle Zeit-, Raum- und Sprachbarrieren hinweg ausdrücken zu können.

Mark Jahr

aus KARPATENRUNDSCHAU, Kronstadt, 
11. September 1999

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