Dienstag, 1. November 2022

Glaubensgeschichte ausgeklammert?

 Zum Artikel „Johannes Paul II. Kommt als umstrittener Gast“ in der Ausgabe vom 6. Mai:

Es bedarf keiner besonderen geschichtlichen Kenntnisse, um festzustellen, daß die Entwicklungen der beiden Kirchen zwei grundverschiedene Richtungen eingeschlagen haben. Während die katholische Kirche sich zu einer weltumspannenden Einheitskirche mit einem „unfehlbaren“ Oberhaupt gemausert hat, mutierte die orthodoxe Kirche zu einer eher synodalen Glaubensgemeinschaft, die sich schließlich in einzelne nationale Kirchen aufspaltete.

Trotz allem sprießen die Lehren beider Kirchen aus dem gleichen christlichen Glaubensstamm. Und aus dieser Erkenntnis betrachtet, ist das ökumenische Gebet des Papstes und des Patriarchen der rumänisch-orthodoxen Kirche durchaus begrüßenswert. Aber auch wenn man die bis 1989 durchaus tyrannenfreundliche Haltung des rumänischen Kirchenoberhauptes bewußt ignoriert, bleibt bei diesem Papstbesuch dann doch ein bitterer Beigeschmack.

Die nationalen Prägungen voll ausnutzend, haben die rumänischen Kommunisten der 50er Jahre die Kirchen total vereinnahmt. Es entstand eine Staatskirche, die den sowjetisch bevormundeten Staat dabei unterstützte, alle anderen Glaubensgemeinschaften zu eliminieren. Katholische, in Rumänien hieß das deutsche und ungarische, Priester verschwanden als „Spione des Vatikan“ für Jahre hinter Kerkermauern.

Jetzt ließ sich der Vatikan in Rumänien ein Besuchsprotokoll aufnötigen, aus dem die Gebiete ausgeklammert blieben, in denen römisch- und griechisch-katholische Gläubige noch heute leben und ihrem Glauben unter oft widrigen Umständen treu bleiben. Die katholische Glaubenslehre propagiert zwar auch die Liebe zum Feind; aber doch wohl kaum mehr als die Wertschätzung der eigenen Gläubigen. Sollte man diesen geschichtsträchtigen Aspekt im Vatikan bereits aus den Augen verloren haben?

Das gemeinsame Gebet mit einem gestrigen Diktatorverehrer mag im Interesse immer anzustrebender friedensstiftender Annäherungen noch zähneknirschend hingenommen werden, das Meiden von Wirkungsstätten katholischer Märtyrer bleibt aber unverständlich. Der römisch-katholische Dom zu Temeswar wäre einer dieser heiligen Orte.

Anton Potche

aus DONAUKURIER, Ingolstadt, 12. Mai 1999


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