Dienstag, 2. August 2022

Ein neues Heimatbuch ruft Erinnerungen wach

Über gelungene Autobiographien liest man gelegentlich in Rezensionen oder Klappentexten, sie wären ein beispielhaftes „document humain“. Gemeint ist damit eine Schrift, in der sich der Lebensweg des Autobiographen mit Biographien anderer meist berühmter Persönlichkeiten aus den Bereichen des Theaters, Films, der Literatur, bildenden Kunst, Musik, des Sports, der Wissenschaft und Politik kreuzt und dadurch ein lebendiges, zeitgeschichtliches Literaturgemälde entsteht. Als Beispiel für diese gewöhnlich sehr anregenden Lektüren könnte man Géza von Cziffras (*1900, Arad - 1989, Dießen) Erinnerungen an Götter und Halbgötter – Kauf dir einen bunten Luftballon (Herbig, 1975) anführen. Darin promenieren so namhafte Gestalten wie Bertolt Brecht, Ödön von Horváth, Albert Einstein, Marlene Dietrich, Hans Albers, Max Liebermann, Arnold Schönberg u.v.a. 
Aber auch Erinnerungen ohne gehobene literarische Ansprüche, die uns weniger berühmte Menschen vor Augen führen, können einen durchaus interessanten Lesestoff hergeben. Sammelt man solche Texte, ergänzt sie mit vielen Fotos und läßt sie in Buchform binden, dann hat man auch ein „ducument humain“ geschaffen, das als „Heimatbuch“ eine gewisse Zielgruppe erreichen soll, was ihm in der Regel auch gelingt. Nach diesem Grundsatz hat wahrscheinlich auch
Franziska Graf (*1933, Schag) gehandelt, als sie Fratelia – 6. Bezirk der Banater Metropole Temeschburg – Eine Erinnerung an Neu-Kischoda und Besenyö-Telep in Druck gehen ließ. 
Natürlich begegnen wir auch in diesem Buch vielen Menschen, und wir stellen dabei fest, daß ihnen die gleiche, also zeitgeschichtliche Akzente setzende Berühmtheit anhaftet wie den Gestalten Géza von Cziffras, nur halt auf einen engeren geographischen Raum bezogen, nämlich auf unser von der Geschichte (nicht ganz ohne unser Zutun) in die Erinnerung verbanntes Banat. Wer in diesem Buch Frateliaer Persönlichkeiten wie Anni Hann, Hans Maly, Grete Sottrel, Dr. med. Helene Aubermann-Venturini u.a. antrifft, wird nicht umhin können, seinen Erinnerungen nachzuhängen, „denn von all dem Schönen ist nichts mehr erhalten“, wie Franziska Graf im Klappentext betont. 
Ist es nicht gewagt, ein Heimatbuch zu einem Drittel aus Erlebnisberichten zu verfassen, wo wir Banater Schwaben doch schon so viele Heimatbücher haben – unter ihnen auch wissenschaftlich fundierte Ortsmonographien , was eventuelle neutrale Leser (also keine Frateliaer) sehr leicht zu Vergleichen anregen könnte? Nein. Und dieses Nein darf um so entschiedener klingen, als es sich auf Fratelia bezieht, sind doch erst 95 Jahre vergangen, seit die einstige Ziegelei-Siedlung vor den Toren Temeswars parzelliert wurde und allmählich Dorfgepräge annahm. An eben diese Zeit des Reifens gesellschaftlicher und kultureller Strukturen in Fratelia erinnern sich noch genug Menschen, um die für ein solches Buch üblichen geschichtlichen Beiträge, Dokumente und Tabellen zu einem stattlichen 456-Seiten-Heimatbuch heranreifen zu lassen. 
Wieviel Herzensgüte Franziska Graf in die Erstellung dieses in Leinen gebundene und mit auch für ältere Menschen leicht lesbaren Lettern geschriebene Werk einfließen ließ, kann man nur erahnen. Daß sie aber zu jedem der Autoren eine persönliche, menschlich warme Beziehung aufgebaut hat, läßt sich anhand der Konzessionen, die sie als Redakteurin den Textverfassern zugestanden hat, leicht erkennen. Die dadurch vorkommenden Wiederholungen sollten den Leser aber nicht irritieren. Schon der nächste Abschnitt kann für eine angenehme Überraschung oder eine liebe Erinnerung sorgen. 
Zum Schluß dieser Buchbetrachtung noch einige Worte an die Jüngeren – heute auch schon Mütter und Väter – der Banater Aussiedlergeneration: Erinnert Ihr Euch noch, wo wir uns gerne trafen, als in so manchem „deutschen“ Dorf die Lichter der Kulturheime längst erloschen waren? Freilich: beim „Blank“ in Fratelia! Und was lesen wir jetzt in diesem Buch? Blank war ein Gastwirt, der sich in Amerika als Detektiv verdungen hatte und mit dem so verdienten Geld diese Gaststätte in Fratelia bauen ließ. Daß die Kirchweihfeste und Tanzabende der deutschen Jugend in diesem Haus wahrscheinlich bis in die späten achtziger Jahre von Securitateaugen detektivisch beobachtet wurden, konnte damals bestimmt selbst der Detektiv Blank kaum ahnen. Fünf der zahlreichen Fotos dieses Buches erinnern uns auch an Veranstaltungen im Kulturheim „Blank“.
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 5. Januar 1999

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