Dienstag, 12. Januar 2021

Lyrik als geistige Herausforderung

Dieter Schlesak: Aufbäumen – Gedichte und ein Essay; Rowohlt Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg, 1990; ISBN 3-498-062417; 123 Seiten; bei Online-Händlern erhältlich, z.B.: Amazon – 6 gebrauchte Exemplare ab 3,04 € (Stand 12.01.2021)

Vor mir liegt das Buch Aufbäumen – Gedichte und ein Essay von Dieter Schlesak, eben zugeklappt, ausgelesen. Die Gedanken wollen mir nicht so recht in die Feder fließen. Sie wirken wie Nachwehen. Mein Blick verfängt sich in der danebenliegenden FAZ-Feuilleton-Seite. Ich lese – mit den Gedanken noch halb bei Schlesaks Gedichten – gleich zwei Rezensionen über Gedichtbände von Johannes Kühn und Dieter M. Gräf. In beiden Besprechungen gibt es genügend Hinweise zum Zweck der Komparation mit anderen namhaften Dichtern.
Kann man so ichbezogene Gedichte wie die Dieter Schlesaks auch mit Lyrikproduktionen anderer Dichter vergleichen? „Was öffnet sich, ich schrei vor Leere, bin lebend längst wie jener Baum / von innen kränker noch als ein Gedanke, der überlebt und stimmt sich ein.“ (Die Toten). Es scheint mir, daß Gedichte überhaupt nur sehr schwer Vergleichen mit Schöpfungen der eigenen Gattung standhalten. Für Schlesaks Gedichte gilt das ganz besonders.

Aufbäumen ist eine Herausforderung für den Leser, und der Dichter scheint dies geahnt zu haben, denn er hat den Gedichten eine literarische Abhandlung hintangestellt, die dem Leser als Wegweiser durch die eben gelesenen Gedichte dienen soll. „Der hebräische Sprach-Baum der Kabbala ist das Modell für die Struktur dieses Bandes, er ist aber verkehrt gedacht: mit seinen zehn Ästen von der Zehn bis zur wortlosen, nicht ausdrückbaren Eins ist er auf den Kopf gestellt, geht von der Zehn zurück zur Eins und zur Null wie beim Countdown: >Null, 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, … Null. // VOLLE LADUNG, die Welt / ein Tumor an der Schläfe. / Schreib / ab.< (Sphärenklang) […] Ab der Mitte des Bandes ist auch das Rückwärtslesen so angelegt, daß die zwei Zeitbewegungen, eine in die Zukunft, die andere zurück in die Vergangenheit gehen. Die beiden Bewegungen – innere Zeichen einer Sanduhr – werden zu Versen.“
Es wäre besser gewesen, wenn dieses Essay bereits zur Einleitung Platz gefunden hätte. Viele Fragen kämen da erst gar nicht auf. Aber vielleicht provoziert Dieter Schlesak bewußt zum Innehalten und reflektieren. Man muß auch feststellen, daß die erste Buchseite von einem „Prolog nach dem Ende“ belegt ist. Das klingt schon nach Hintersichlassen und Neuanfang.
Was war das, was der Dichter hinter sich ließ? „Ein wenig Nie verging.“ Soll‘s das schon gewesen sein für einen Intellektuellen, der zwischen 1959 und 1969 als Redakteur der Zeitschrift NEUE LITERATUR die rumäniendeutsche Literatur mitgeprägt hat? Natürlich nicht. Gedichte in diesem Band für Rolf Bossert, Ernest Wichner, Ion Caraion und Franz Hodjak sind geschwängert von Erinnerungen und Vom Siebenbürgischen Staub.
Der 1934 in Schäßburg geborene Dichter und Essayist ist längst in anderen Landschaften heimisch geworden. Stuttgart und die Toskana werden in des Autors Kurzvita genannt. Auf eine eventuelle Frage, welcher der beiden Wohnsitze ihm lieber sei, geben mehrere Gedichte dieses Bandes eine schlüssige Antwort: „Rings um mein Zuhause / dämmert es mir / im Regen / unter den immer noch / unsichtbar angelnden Göttern, / in Regenstreifen glänzende Glieder / am Olivenbaum vor meinem Fenster.“
Aber es gibt für Schlesak noch dieses dritte, eigentlich sein erstes Zuhause, für das es sich lohnt heimzukehren, und es ist eben dieses beschwörte Heimweh, das den Leser dann auch begreifen läßt, warum Schlesak diesen Band mit dem Essay und dieses wiederum mit diesem Satz beendet: „Doch seit kurzer Zeit sind die Gründe auch im Alltag sichtbar geworden; und wenn ich jetzt an mein Land denke, hat sich jeder Gedanke, jedes Lebensdetail, ja auch die Erinnerung verändert; es ist so, als wäre der Anfang gemacht mit jenem Zustand, >daß jedes, als von unendlicher Umkehr ergriffen, und erschüttert, in unendlicher Form sich fühlt, in der es erschüttert ist<, jenes , das Hölderlin die >Vaterlandstage< nennt: >vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen<, der privaten, politischen und auch der religiösen; dieses wäre der Vorgeschmack jener Heimkehr, für die es sich gelohnt hätte zu leben.“

Anton Potche

aus BANATER POST, München, 5. Februar 1998


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