Dienstag, 6. Oktober 2020

Machterhalt stört soziale Stabilität

 Zum Artikel Helden der Revolution hungern für Privilegien, Ausgabe vom 30. Oktober:
Wenn man die rumänischen Verhältnisse verfolgt, kann man sich nur schwer des Eindrucks eines sozialen Chaos in diesem Land erwehren, und das trotz einer gewissen politischen Stabilität. Jeder gegen jeden, oft ohne klar erkennbare Gründe, aber immer mit erahnbaren Zielen: Es geht ums Erhalten von Macht und materiellen Vorteilen. Man wird dabei das ungute Gefühl nicht los, daß noch immer die dunklen Mächte der kommunistischen Vergangenheit gut getarnt ihr Unwesen treiben. Diese Atmosphäre setzt in den Menschen Selbsterhaltungstriebe frei, die jedwede gesetzlichen Schranken ignorieren. 
Ein rumänischer Journalist, Bogdan Ficeac, versuchte kürzlich die Situation in seinem Land mit dem 1893 vom französischen Soziologen Emile Durkheim erstmals analysierten Phänomen der Anomie (Gesetzlosigkeit) zu erklären. Diese soll nach großen geschichtlichen Erdrutschen in Erscheinung treten.
Ein Vergleich der 1989 in Ost- und Südosteuropa stattgefundenen Umwälzungen läßt erkennen, daß das in Rumänien geflossene Blut tiefe Gesellschaftsgräben ausgeschwemmt hat, während die „friedlichen Revolutionen“ in anderen Staaten Osteuropas klarere Perspektiven geschaffen haben. Natürlich wirken sich die inneren Konvulsionen in Rumänien negativ nach außen hin aus, was zu einer verständlichen Zurückhaltung des ausländischen Kapitals auf dem inländischen Investitionssektor führt. So ist ein Teufelskreis entstanden, der nur mit entschiedenen Reformschritten durchbrochen werden kann. Solche Schritte wurden von der Regierung Ciorbea zwar in die Wge geleitet, aber oft nicht konsequent verwirklicht. Dieses Zögern, dem auch nur ein unbedingter Machterhaltungsdrang zugrunde liegt, ist ebenfalls ein Anomie-Symptom.

Anton Potche

aus DONAUKURIER, Ingolstadt, 18. November 1997

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