Dienstag, 23. Juni 2020

Legende des Heilige-Anna-Sees


In zwei einsamen Waldhütten
Auf unwegsamen Karpatengipfeln
Lebten am Anfang der Zeit
Zwei Brüder, der eine arm, der andere reich.

Auf einem Wagen mit goldenen Sprossen,
Gezogen von sechs prächtigen Rossen,
Begleitet von Donner und grellen Blitzen,
Raste der Ältere vor seines Bruders Hütte.

Der Neid zernagte des Jüngeren Seele,
Zur Hölle ward sein karges Leben,
Verwaist blieb tagelang sein Berg,
Wo er war, weiß niemand mehr.

Er fuhr heran am siebten Tage
Auf einem großen, goldenen Wagen.
Sechs Jungfrauen, gedemütigt, bleich,
Trugen im Halsjoch ihr schreckliches Leid.

Heilige-Anna-See
Foto:  Sophie-de-Roumanie
Als letzte in der Reihe zog 
Anna wohl das schwerste Los. 
Peitschenhieb auf Peitschenhieb 
Zwang sie schließlich in die Knie. 
Nur zum Gebet blieb ihr noch Kraft, 
Zum Flehen und Hoffen auf Gottes Gnadʼ.

Der Herr ließ den Jungfrauen Flügel wachsen,
Die Habgierigen ernteten seine Strafe.
Berge stürzten damals ein,
Verblaßt war selbst der Sonnenschein.
Ein stiller See quoll aus der Tiefe,
Wo Anna innig betend kniete.


[Tuschnad / Tușnad / Harghita / Rumänien, 1981]
Mark Jahr




aus KARPATENRUNDSCHAU, 

Kronstadt, 11. Oktober 1997




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