Dienstag, 21. April 2020

Marat und de Sade

Friedrich Schilha am Theater in Ingolstadt
„Marat, wer war Marat?“, fragte ein Plakat an den Litfaßsäulen und Stellwänden im April 1997 die Bürger Ingolstadts an der Donau. Einige Antworten fanden sie in einer deutsch-französischen Ausstellung, die unter der Überschrift Bürger Marat – Beruf: Arzt als Beitrag zum Französischen Frühling in Bayern im Foyer des Theaters Ingolstadt zu besichtigen war.
Wer in jenen Tagen aber ins Herz des Ingolstädter Musentempels vorstieß, konnte einen mit den stilistischen Mitteln der Theaterkunst geklonten Marat auf der Bühne erleben. In dem Drama Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielergruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade von Peter Weiss wird eindrucksvoll das tragische Schicksal des Revolutionärs Marat dargestellt.
Jean Paul Marat (* 1743, ermordet 1793) war eine Leitfigur der Französischen Revolution und trat als radikaler Jakobiner für eine Diktatur des Aufstandes ein. Bei dem Robespierre-Biograpfen Jean Massin ist nachzulesen: „Die Prinzipien, die Robespierre darlegte und deren Verwandtschaft mit den letzten Gedanken Marats nicht zu verkennen ist, sind tatsächlich dieselben, die Marx, Engels und Lenin aufgriffen und weiterentwickelten, indem sie die Unterscheidung der konstitutionellen Regierung des Friedens und der revolutionären Regierung in Kriegszeiten auf den Klassenkampf anwandten.“
Natürlich können wir, nach unseren leidvollen Erfahrungen mit der Diktatur des Proletariats mit diesem Marat nicht sympathisieren. Stellen wir ihn uns aber als einen zeitweise aus einem Kellerversteck agierenden Journalisten vor, der auch in seiner Radikalität immer die Interessen der ärmsten Volksschichten vertrat, so können wir uns dem plötzlichen Wiederauftauchen der via Bildschirm gesehenen Bilder von der Verkündigung des Sturzes der Ceaușescu-Diktatur nicht entziehen. Auch in Bukarest war es 1989 ein aus dem Hausarrest aufgetauchter Wortkünstler, der dem Volk die Freiheit verkündete, der Dichter Mircea Dinescu. So kann die Ähnlichkeit geschichtlicher Ereignisse unser Interesse für Figuren wie Marat durchaus wachrütteln.
Friedrich Schilha (li.) und 
Thomas Schneider  
 Foto: Reinhard Dorn
Wie er so dasaß, wegen einer Hautkrankheit in eine kleine Badewanne eingezwängt, konnte er einem schon leid tun. Seine Theorien wurden von der Wirklichkeit überboten und statt sich auf die Suche nach neuen, gewaltfreien Wegen zu begeben, radikalisierte sich sein Denken noch mehr. Die Revolution hatte sich zu einem Selbstläufer entwickelt, der mehr und mehr Menschenleben forderte. Die Umsetzung von Marats politischen Thesen in die Praxis scheiterte am individualistischen Freiheitsdrang des Individuums.
Nun ist der Marat des Peter Weiss bereits eine Theaterfigur aus zweiter Hand, denn das Stück selbst schildert den Ablauf einer Theaterinszenierung in der Irrenanstalt von Charenton am 13. Juli 1808. Als Verfasser und Regisseur des Stückes stellt Peter Weiss den Schriftsteller Donatien Alphonse François Marquis de Sade (*1740, †1814) in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Darsteller des Stückes sind alle Heiminsassen, also geistesgestörte Menschen.
Horst Ruprecht, der dieses „Theater im Theater“ in Ingolstadt inszeniert hat, ist es gelungen anhand gegenseitiger Thesen auch gegensätzliche sittliche Veranlagungen der Protagonisten Marat und de Sade besonders durch den Gestus zu unterstreichen. Während Marat (Thomas Schneider) krampfhaft versucht, aus seiner Isolation (Badewanne) auszubrechen, um seine Aufrufe an das französische Volk an die Öffentlichkeit zu bringen, quält der arrogante de Sade ihn mit seinen Verherrlichungen der perversen Triebe im Menschen. de Sade genießt die schicksalhafte Ausweglosigkeit Marats und erkennt in dessen Tod durch den Dolchstoß Charlotte Cordays die Bestätigung seiner eigenen Theorien vom Triumph des Amoralismus.
Peter Weiss hat die Handlung dieses Stückes in gleich drei Zeitebenen und ebenso vielen Orten angesiedelt. Der Zuschauer erlebt in irgendeinem Theater so ab 1964 – da hatte Peter Weiss das Stück fertig – (1. Ebene), wie der in Charenton inhaftierte Herr de Sade im Jahre 1808 mit Geistesgestörten ein Stück in Szene setzt (2. Ebene), das die Ermordung Marats im Jahre 1793 zeigt (3. Ebene).
Diese drei Ebenen fließen sowohl räumlich (Bühnenbild: Konrad Kulke) als auch darstellerisch ineinander, ohne die Grenzen allerdings zu verwischen. Zwischen der ersten und zweiten Ebene pendelt ein Moderator hin und her, der versucht, dem Saalpublikum das Stück als aktuellen Stoff zu vermitteln, während zwischen der zweiten und dritten Ebene uns die Antithesen de Sades grandiose Monologe gegen „den im 18. Jahrhundert entstehenden moralischen Universalismus mit seinen demokratischen Implikationen“, wie der Literaturwissenschaftler Joachim von der Thüsen mal formulierte, bescheren.
In der Ingolstädter Inszenierung wurde Marquis de Sade von dem in Reschitza geborenen Schauspieler Friedrich Schilha dargestellt, und das „sehr präzise …, etwa wenn er lustvoll die Corday mit ihrem Messer streichelt“, wie im DONAUKURIER zu lesen war.
Schilha studierte an der Schauspielhochschule in Bukarest und spielte am Theater in Temeswar, Münster, Kaiserslautern und seit 1993 in Ingolstadt. In der Spielzeit ʼ96/ʼ97 war er am Theater Ingolstadt noch in den Stücken Clara S. von Elfriede Jelinek, Das Geheimnis der Irma Vep von Charles Ludlam und in Ein ausgestopfter Hund von Staffan Göthe zu sehen.

Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 14. September 1997


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