Friedrich Schilha am Theater in Ingolstadt
„Marat, wer war Marat?“, fragte ein Plakat an den Litfaßsäulen
und Stellwänden im April 1997 die Bürger Ingolstadts an der Donau.
Einige Antworten fanden sie in einer deutsch-französischen
Ausstellung, die unter der Überschrift Bürger Marat –
Beruf: Arzt als Beitrag zum Französischen Frühling in
Bayern im Foyer des Theaters Ingolstadt zu besichtigen war.
Wer in jenen Tagen aber ins Herz des Ingolstädter Musentempels
vorstieß, konnte einen mit den stilistischen Mitteln der
Theaterkunst geklonten Marat auf der Bühne erleben. In dem Drama Die
Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die
Schauspielergruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des
Herrn de Sade von Peter Weiss wird eindrucksvoll das
tragische Schicksal des Revolutionärs Marat dargestellt.
Jean Paul Marat (* 1743, ermordet 1793) war eine Leitfigur der
Französischen Revolution und trat als radikaler Jakobiner für eine
Diktatur des Aufstandes ein. Bei dem Robespierre-Biograpfen Jean
Massin ist nachzulesen: „Die Prinzipien, die Robespierre
darlegte und deren Verwandtschaft mit den letzten Gedanken Marats
nicht zu verkennen ist, sind tatsächlich dieselben, die Marx, Engels
und Lenin aufgriffen und weiterentwickelten, indem sie die
Unterscheidung der konstitutionellen Regierung des Friedens und der
revolutionären Regierung in Kriegszeiten auf den Klassenkampf
anwandten.“
Natürlich können wir, nach unseren leidvollen Erfahrungen mit der
Diktatur des Proletariats mit diesem Marat nicht
sympathisieren. Stellen wir ihn uns aber als einen zeitweise aus
einem Kellerversteck agierenden Journalisten vor, der auch in seiner
Radikalität immer die Interessen der ärmsten Volksschichten
vertrat, so können wir uns dem plötzlichen Wiederauftauchen der via
Bildschirm gesehenen Bilder von der Verkündigung des Sturzes der
Ceaușescu-Diktatur nicht entziehen. Auch
in Bukarest war es 1989 ein aus dem Hausarrest aufgetauchter
Wortkünstler, der dem Volk die Freiheit verkündete, der Dichter
Mircea Dinescu. So kann die Ähnlichkeit geschichtlicher
Ereignisse unser Interesse für Figuren wie Marat durchaus
wachrütteln.
Friedrich Schilha (li.) und
Thomas Schneider
Foto: Reinhard Dorn
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Wie er so dasaß, wegen einer Hautkrankheit in eine kleine Badewanne
eingezwängt, konnte er einem schon leid tun. Seine Theorien wurden
von der Wirklichkeit überboten und statt sich auf die Suche nach
neuen, gewaltfreien Wegen zu begeben, radikalisierte sich sein Denken
noch mehr. Die Revolution hatte sich zu einem Selbstläufer
entwickelt, der mehr und mehr Menschenleben forderte. Die Umsetzung
von Marats politischen Thesen in die Praxis scheiterte am
individualistischen Freiheitsdrang des Individuums.
Nun ist der Marat des Peter Weiss bereits eine Theaterfigur
aus zweiter Hand, denn das Stück selbst schildert den Ablauf einer
Theaterinszenierung in der Irrenanstalt von Charenton am 13. Juli
1808. Als Verfasser und Regisseur des Stückes stellt Peter Weiss
den Schriftsteller Donatien Alphonse François
Marquis de Sade (*1740, †1814)
in den Mittelpunkt des Geschehens. Die
Darsteller des Stückes sind alle Heiminsassen, also geistesgestörte
Menschen.
Horst Ruprecht,
der dieses „Theater im Theater“ in Ingolstadt inszeniert hat, ist
es gelungen anhand gegenseitiger Thesen auch gegensätzliche
sittliche Veranlagungen der Protagonisten Marat und de Sade besonders
durch den Gestus zu unterstreichen. Während Marat (Thomas Schneider) krampfhaft
versucht, aus seiner Isolation (Badewanne) auszubrechen, um seine Aufrufe an das
französische Volk an die Öffentlichkeit zu bringen, quält der
arrogante de Sade ihn mit seinen Verherrlichungen der perversen
Triebe im Menschen. de Sade genießt die schicksalhafte
Ausweglosigkeit Marats und erkennt in dessen Tod durch den Dolchstoß
Charlotte Cordays die Bestätigung seiner eigenen Theorien vom
Triumph des Amoralismus.
Peter Weiss
hat die Handlung dieses Stückes in gleich drei Zeitebenen und ebenso
vielen Orten angesiedelt. Der Zuschauer erlebt in irgendeinem Theater
so ab 1964 – da hatte Peter
Weiss das Stück
fertig – (1. Ebene), wie der in Charenton inhaftierte Herr de Sade
im Jahre 1808 mit Geistesgestörten ein Stück in Szene setzt (2.
Ebene), das die Ermordung Marats im Jahre 1793 zeigt (3. Ebene).
Diese drei Ebenen fließen
sowohl räumlich (Bühnenbild: Konrad
Kulke) als auch
darstellerisch ineinander, ohne die Grenzen allerdings zu verwischen.
Zwischen der ersten und zweiten Ebene pendelt ein Moderator hin und
her, der versucht, dem Saalpublikum das Stück als aktuellen Stoff zu
vermitteln, während zwischen der zweiten und dritten Ebene uns die
Antithesen de Sades grandiose Monologe gegen „den im 18.
Jahrhundert entstehenden moralischen Universalismus mit seinen
demokratischen Implikationen“, wie der Literaturwissenschaftler
Joachim von der Thüsen
mal formulierte, bescheren.
In der Ingolstädter
Inszenierung wurde Marquis de Sade von dem in Reschitza geborenen
Schauspieler Friedrich
Schilha dargestellt,
und das „sehr präzise …, etwa wenn er lustvoll die Corday mit
ihrem Messer streichelt“, wie
im DONAUKURIER zu lesen war.
Schilha
studierte an der Schauspielhochschule in Bukarest und spielte am
Theater in Temeswar, Münster, Kaiserslautern und seit 1993 in
Ingolstadt. In der Spielzeit ʼ96/ʼ97 war er am Theater Ingolstadt
noch in den Stücken Clara
S. von Elfriede
Jelinek, Das
Geheimnis der Irma Vep
von Charles Ludlam
und in Ein
ausgestopfter Hund
von Staffan Göthe
zu sehen.
Mark Jahr
aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 14. September 1997
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