Dienstag, 15. Oktober 2019

Zwischen den Diktaturen

Ein wegweisendes Buch über Leben und Werk 
Sr. Hildegardis Wullfs
Schwester Hildegardis – Weg, Werk und Vermächtnis – vom Wirken einer deutschen Ordensfrau im Banat. Herausgegeben von der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Landesverband Bayern, 1996; DM 16,- plus Versandkosten.

Wohl wissend, daß von einem aus der Diaspora ins Mutterland heimgekehrten Volksstamm langfristig nur die in Büchern, Zeitungen, Filmen, Lp-CD-MCs, CD-Roms und anderen neuen, noch nicht geborenen Datenträgern gespeicherten Daten unserer Nachwelt übermittelt werden können, bemühen sich alle Landsmannschaften bereits seit den 50er Jahren, ihr kulturelles und zivilisatorisches Schaffen außerhalb des heutigen deutschen Sprachraums zu konservieren. Biographien bedeutender Frauen und Männer spielen in der langen Veröffentlichungsreihe eine bedeutende Rolle, befördern doch gerade sie oft Hintergrundwissen, das den Erlebnisgenerationen weitgehend vorenthalten wurde und heute den noch Interessierten oder schon ihren Nachkommen ganz neue Blickwinkel zugänglich macht.

Der Landesverband Bayern der Landsmannschaft der Banater Schwaben hat jetzt einen Band über Die Liobaschwester dr. Hildegardis Wulff veröffentlicht, der in diesem Kontext etwas Licht in eine Zeit bringt, die lange von rumänischer Seite durch gezielte staatliche Desinformation oder verordnetes Totschweigen verschleiert wurde, aber wegen einer gewissen Scheu der Landsmannschaft vor schmerzlicher Vergangenheitsbewältigung auch hierzulande weitgehend im Dunkel schlummerte. Dabei gibt es doch besonders bei der mittleren Aussiedlergeneration der Banater Schwaben einen großen Nachholbedarf an Informationen über die Situation ihres Volksstammes in der Zwischenkriegszeit. Was die heute 40- bis 50-Jährigen aus Geschichtsschulbüchern erfuhren, war oft die reinste Volksverdummung.
Das vorgelegte Buch, ein Hardcover mit 220 Seiten, reich bebildert, mit Zeittafel sowie Personen- und Ortsnamensverzeichnis versehen, ist aber keine Lebensbeschreibung im herkömmlichen Sinn, sondern eher eine Sammlung von Vorträgen, biographischen Skizzen, Zeitdokumenten, Erinnerungen und Briefen. Sie alle bilden jedoch nur eine Informationshülle, in die der „Canadische Brief“ von den Redakteuren Nikolaus Engelmann, Franziska Graf, Peter Krier und Eduard Schneider eingebettet wurde.
Diesen autobiographischen Brief schickte die einstige Priorin des Klosters der Kongregation der Benediktinerinnen von der heiligen Lioba in Temeswar, Sr. Dr. Hildegardis Wulff, im Jahre 1960 aus Kanada an ihre Mitschwestern im Mutterkloster der Benediktinerinnen v. d. hl. Lioba in Freiburg. Das erschütternde Dokument vermittelt nicht nur Weg, Werk und Vermächtnis einer deutschen Ordensfrau im Banat, sondern es öffnet den Vorhang vor einer Epoche, in der sich das endgültige Schicksal der Banater Schwaben zu besiegeln begann.
Sr. Dr. Hildegardis Wulff (*1896 in Mannheim, †1961 in Freiburg) kam 1927 ins Banat, aber nicht um zu belehren und zu bekehren, sondern um Mädchen und Frauen so zu erziehen, damit sie „ganz volksverbunden, dem angestammten, altehrbaren Bauerntum nahe aufwachsen“.
Was die engagierte Schwester im Banat vorfand, ließ ihre literarische Ader noch 33 Jahre später heftig pulsieren: „Die Dörfer haben nichts von der malerischen Schönheit altfränkischer oder der Dörfer in Tirol oder im Schwarzwald. Aber, wie sie so breit dahingestreckt und weit ausgebreitet in der fruchtbaren Ebene lagen, hatten sie teil an dem ungemeinen Reiz dieser sehr starken südöstlichen Landschaft: dem unendlichen Himmel, der im Sommer wolkenlos, dunkelblau von Weltanfang bis zum Weltende reichte, so daß man, auf der breiten, geraden Dorfstraße stehend, die ins Land hinausführte, denken konnte, der breite Weg führe direkt in den Himmel, da sich ganz fern Horizont und Erde begegneten.“
Das religiöse und moralische Rückgrat einiger deutscher Bevölkerungsschichten vor Ort konnte die vielseitig gebildete und vorausschauende Klosterfrau aber nur beunruhigen: „Als ich später, einer Einladung folgend, zwei Bauernhäuser in Billed besichtigte, fand ich großen Wohlstand und Sauberkeit, prächtiges Vieh, schöne Möbel, aber weder eine Bibel noch ein Gesang- oder Gebetbuch in den Häusern. […] Eine große Zahl Priester, welche ich 1927 traf, stand noch ganz unter dem Eindruck vergangener Zeiten, in welchen die katholische Geistlichkeit, von der Habsburgischen Krone in Ungarn reichst dotiert, sich als die ersten Diener Ungarns betrachteten und eine geistige Vasallität zwischen dem Ungarntum und dem Klerus mit Gewalt auch jetzt noch aufrecht zu erhalten trachteten, als das Banat und Siebenbürgen längst durch den Vertrag von Versaille und die kluge Politik Titulescu’s an Rumänien gekommen waren. […] Die >deutschen Ärzte< des Banates waren ebenfalls in eine recht traurige Sackgasse geraten; krassester Materialismus und die Sucht nach immer besserem Leben, prunkvolleren Häusern und noblem Auftreten der Familie war bei recht vielen unter ihnen höchst bedauerlich.“
Die eher deprimierende Situation hat die volksnahe Ordensfrau zu schier übernatürlichen Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge und der geistigen Wegweisung im Sinne der christlichen Lehre motiviert. „Kein Bazill verbreitet sich so schnell, so hemmungslos wie die Ansteckungsstoffe geistiger Epidemien.“
Was dem nationalsozialistischen „Bazill“ nicht gelang, - „Mir drohte man ernstlich mit der Verbringung ins Lager nach Dachau.“ – vollbrachte der kommunistische. Um die mit außergewöhnlicher Rhetorik begnadete und von den Banater Schwaben überaus geschätzte und geliebte Priorin mundtot zu machen, zerstörten die rumänischen Stalin-Handlanger ein durch seine kurze Entstehungszeit bis dahin beispielloses Aufbauwerk eines katholischen Ordens in Südosteuropa. Sr. Dr. Hildegardis Wulff mußte neun Jahre lang für ihr selbstloses Wirken im Zuchthaus büßen.
Die längst zur rumänischen Staatsbürgerin gewordene Priorin war nach 1944 den kommunistischen Machthabern weniger durch die staatseigene atheistische Doktrin, als vielmehr wegen ihrem außerklösterlichen Einsatz für die über Nacht zu Staatsfeinden deklarierten Banater Schwaben ein Dorn im Auge. Dr. Hildegardis Wulff scheute selbst vor verwegenen, ja abenteuerlichen Aktionen nicht zurück, um Menschen vor dem Zugriff der kommunistischen Klauen zu retten. Sie hat nach 1945 einen Bekanntheitsgrad erreicht, der bis weit in die Siedlungsgebiete der Donauschwaben in Jugoslawien und Ungarn reichte. Menschen in den ausweglosesten Situationen ehoben ihre flehenden Blicke zu einer Lichtgestalt, die in den verängstigten Herzen längst die Grenzen des Sinnlichen gesprengt hatte. Der Brief eines durch die Kriegswirrnisse in den Westen gelangten Donauschwaben an seine zwei, von einem rumänischen Bauer aus einem serbischen Kinderlager geretteten Buben spricht Bände: „Geht in der Nacht aus dem Lager weg, marschiert in den Sommernächten, versteckt euch am Tag in einem Gebüsch und schlaft. Wenn euch ein böser Hund begegnet, gebt ihm ein Stück Brot und setzt euch, und er wird euch nichts tun. Mit den Leuten sprecht serbisch oder ungarisch, zeigt nicht, daß ihr Deutsche seid; geht immer nach Osten, Sonnenaufgang, und in Rumänien fragt nach dem Weib Hildegard, die soll euch helfen, daß ihr wieder zu mir kommt. Die hat schon vielen geholfen.“
Dieser an Evangeliumsworte erinnernde Aufruf verleitet aber auch allzu leicht zum Trugschluß, daß die Klosterschwester Hildegardis mit übernatürlichen Fähigkeiten für ihre Mission ausgestattet war. Wie zutiefst menschlich, aber auch ungewöhnlich glaubensstark diese außergewöhnliche Frau fühlte – aus einigen ihrer Schilderungen spricht auch Strenge, deren Nachvollzug uns heute wohl Schwierigkeiten bereiten würde –, zeigen ihre absichtlich kurzgehaltenen Gedanken zu ihrem Zwangsaufenthalt in einem kleinen Teil der 15 Gefängnisse, hinter deren Mauern sie von 1950 bis 1959 leiden mußte. „Man ist wie ein gefangener Vogel, welcher wild im Käfig umherflattert und sich den Kopf sinnlos an den Stäben und Gittern einrennt.“
Und trotzdem bildet das Bemühen um Verstehen und Verzeihen das Herzstück des Vermächtnisses, das Sr. Dr. Hildegardis Wulff den Adressaten ihres „Canadischen Briefes“ hinterläßt: „Mir war mit der Zeit die feste Gewißheit zuteil geworden, daß der Herr ein Strafgericht, ein großes Reinigungsverfahren an uns vollziehen wollte, zuerst an mir selber, dann an einzelnen Zweigen der hl. Kirche, aber auch an der ganzen bürgerlich- kapitalistischen und nationalistischen Klasse. […] Freilich, wir mußten gegen die falsche und sündhafte Weltanschauung des Kommunismus kämpfen.“
29 Jahre nach dem Tode von Sr. Dr. Hildegardis Wulff ist der Kommunismus an seiner menschenverachtenden Ideologie gescheitert und den Volksstamm, dessen christliche Prägung die Ordensfrau sich zum Lebensziel gesetzt hatte, gibt es als geschlossene, in der Diaspora lebende Gemeinschaft nicht mehr. Ihr damals segensreiches Wirken bleibt durch das nun vorliegende Buch auch nachfolgenden Generationen zugänglich.

Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 11. Mai 1997


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