Der Versuch einer Annäherung ohne Rezensionsabsichten
Wie
in allen Bereichen unseres Gesellschaftslebens werden auch in der
Verlagsbranche kontinuierliche Verbesserungsprozesse als Existenzgrundlage
wahrgenommen. Besonders auf Buchmessen und an Jubiläen sind Einfallsreichtum
zum Ködern von Kunden gefragt. Ein für die deutsche Verlagslandschaft wichtiger
Jubeltag fiel in den verflossenen Sommer: 50 Jahre Rowohlt Rotations Romane. Prompt
tauchten in den Buchhandlungen Tische beladen mit Taschenbüchern im sogenannten
Jubiläumsformat (9 x 14,5 cm) von 50 Autoren auf. Große Namen: Paul Auster, Wolfgang Borchert, Albert
Camus, Vaclav Havel, Klaus Mann, Jean-Paul Sartre, Tilman
Spengler, Kurt Tucholsky und
viele andere.
Unser
donauschwäbischer Bücherwurm überfliegt gelassen, nur so zum Zeitvertreib die
Bücherstapel und siehe da, er wird fündig. Der Griff nach dem Buch ist spontan,
selbstverständlich: Herta Müller - Drückender Tango, Erzählungen, Rowohlt
Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1996, 200-ISBN 3 499 22080 6.
Dann
liest er den Empfehlungstext auf dem Buchdeckel: „Was Herta Müller in die Reihe
der besten deutschsprachigen Autorinnen versetzt, ist nicht allein ihre
Fähigkeit, das grauenvolle Landleben der Banatschwaben zu erfassen –
entscheidend ist die poetische Qualität der Herta Müller.“ (DER SPIEGEL)
Unmut.
Was war an diesem Landleben der Banater Schwaben, abgesehen von den politisch
und wirtschaftlich schwierigen Existenzbedingungen, so „grauenvoll“? Neugierde.
Dann der Blick auf den Preis: DM 2,-. Spare hin, spare her. Zwaa Mark sin nemol
forr e Herta Müller-Buch vill.
Zuhause angekommen, begibt der Donauschwabe aus dem Banat sich auf die Suche nach
dem „grauenvollen Landleben“, in der Hoffnung, als Besänftigung seiner
Verdrossenheit wenigstens in den Genuß von Herta
Müllers „poetischer Qualität" zu kommen. Er
liest.
Faule Birnen: „Die Decke
überschlägt sich in langen Stößen. Die Tante stöhnt. Der Vater keucht. Das Bett
zuckt in kurzen Stößen aus dem Holz. […] Hinter der Zimmerwand ächzt das Bett
in kurzen Stößen. Die Mutter stöhnt. Der Vater keucht. Die Ebene ist
vollgehängt mit schwarzen Betten und mit faulen Birnen.“
Wirklich
grauenvoll. Wut. Aber so ist nun mal das Leben. Und nicht nur dort im Banat.
Drückender Tango: „Großmutter
hängt ihren rasselnden Kranz aus weißen Steinchen an den Grabstein über Vaters
Gesicht. Wo Vaters tiefe Augen sind, ist jetzt das rotentfleischte Herz der
lächelnden Maria. Wo Vaters harte Lippen sind, ist jetzt die ungarische Schrift
der Monarchie.“
Poetische
Qualität. Allerheiligen bedrückt Kindergemüter und leitet ihre Phantasie in
gespenstische Bahnen. Versöhnung.
Dorfchronik: „Der
Bürgermeister, der im Dorf Richter genannt wird, hält im Gemeindehaus seine
Sitzungen. Unter den Anwesenden gibt es Raucher, die abwesend rauchen,
Nichtraucher, die nicht rauchen und schlafen, Alkoholiker, die im Dorf Säufer
genannt werden und die Flaschen unter den Stühlen stehen haben, sowie
Nichtalkoholiker und Nichtraucher, die schwachsinnig sind, was im Dorf
anständig genannt wird, die so tun, als würden sie zuhören, die aber an etwas
ganz anderes denken, falls es ihnen überhaupt gelingt, zu denken.“
Toll.
Literarische Ethnographie mit spitzer Feder geschrieben und gegeißelte
Politikvorgaukelei. Einverstanden.
Die große
schwarze Achse:
„Es stank nach faulem Fleisch. Meine Tante hob ihre Röcke. Ein heller Fleck
stand unter der schwarzen Bluse. Der Fleck war breit, und gleicher war er als
zwei Monde. Meine Tante wischte sich mit einem Grasbüschel den Hintern. Mein
Onkel ging auf dem Bahndamm auf und ab. Er blieb kurz stehen und:
‚Menschenskind‘, rief er, ‚das stinkt ja wie die Pest.‘ Der Himmel roch nach
Kot.“
Weltuntergangsstimmung.
War diese Diasporagemeinschaft so tief gesunken, daß in Kinderaugen nur noch
das Unmoralische haften blieb? Wer sagt denn, daß es verwerflich ist, wenn Leni
von Ionel ein Kind bekommt? Wäre der kleine Franz auch vaterlos geblieben, wenn
die einen die anderen nicht so verachtet hätten? Quälende Fragen. Verfluchter
Text. Schnell weiter.
Drosselnacht: „Ich habe
nichts gesehen von dieser Welt, darum versteh ich nichts. Nur denk ich so für
mich, wenn ich das Laub über dem Hügel seh, daß unser Dorf so klein geblieben
ist im großen Krug. Und keiner suchts und keiner findet es. Und für die Welt
wars nur ein Angebot im Krieg. Die Wolken schwimmen jeden Morgen durch das
Laub. Sie sind ein Blutband überm Hügel. Wer glaubt mir, daß es an der Drossel
liegt, daß Martin starb.“
Beeindruckend.
Ein Klagelied in Prosa gegen den Krieg. Davon gibt es zu wenige in allen
Sprachen dieser Erde. Nachdenklichkeit.
Viele Räume sind
unter der Haut:
„Ein Soldat steht unterm Baum. Er hält die Mütze in der Hand. Er würgt. Hinter
ihm steht ein Soldat. Der lacht. Er tritt an den Stamm. Fick deine Mutter,
schreit er. Die Mütze fällt auf den Boden. Der Soldat erbricht an den Stamm.“
Ablehnung. Das ist nicht unsere Sprache. Diese
Ausdrücke gab es nie bei uns. Sie klingen nur rumänisch. Dieses Bild ist
verfälscht. Das Fremde aber hat die Farben schon gemischt.
Unser
Leser schließt das handliche Büchlein. Er kennt diese Erzählungen. Sie stehen
in seinem Bücherschrank mit anderen Herta-Müller-Büchern. Er wäre kein Banater
Schwabe, trüge er nicht seit Jahren einen ohnmächtigen Groll im Herzen gegen
diese Bücher. Jetzt hat er einiges aus ihren Innereien wieder gelesen und ist
sich plötzlich nicht mehr so sicher. Da ist so viel, was am Ansehen kratzt.
Dann
klappt der nachdenkliche Leser die Augenlider runter und blickt in die
Gegenwart. Er sieht Machtkämpfe um des Kaisers Bart. Allerorts. Unten und oben.
Und er denkt sich, Mensch ist Mensch, und es sind eben seine Schwächen – auch
wenn sie nur in einzelnen Individuen zum Ausbruch kommen -, die den Stoff
liefern, aus dem Literaturpreischancen geschmiedet sind.
Mark
Jahr
aus DER DONAUSCHWABE, Aalen,
9. Februar 1997
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