Dienstag, 8. Januar 2019

Musik als Erlebnis und Erinnerung

Duoabend in Ingolstadt
Musiker/innen, für die Musik mehr als Lese- und Vortragsvermögen bedeutet, sind sich des missionarischen Charakters bewußt, der universeller Tonkunst innewohnt. Sie sind getreu diesem Sendungsbewußtsein dauernd auf der Suche nach neuen Werken. Diese einem breiten Publikum zugänglich zu machen, liegt im Bestreben jedes wahren Musikers. Wenn sie nun die Musik eines geographischen Raumes, die ihnen durch bewußtes Erleben bekannt ist oder ihnen dank Abstammung nachträglich übermittelt wurde, in anderen Regionen zum Erklingen bringen, dann handeln sie gemäß dem Universalitätsprinzip ihrer Kunst. Genau in diesem Sinne handelten zwei begnadete Musikerinnen in Ingolstadt, als sie im Großen Musiksaal des Apian-Gymnasiums vor ein erwartungsvolles Publikum traten.
Eva-Maria Atzerodt, Klavier, und Bärbel Danek, Querflöte, warteten mit einem Programm auf, das auch Werke zweier südosteuropäischer Komponisten beinhaltete. Bärbel Danek hat den Anstoß für diese Auslese gegeben, stammt sie doch aus Kronstadt in Siebenbürgen. Die in Ingolstadt bereits zur Institution gewordene Pianistin, Violinistin, Cellistin, Kontrabassistin, Organistin, Sängerin, Chorleiterin und Kommunalpolitikerin Eva-Maria Atzerodt für dieses Projekt zu gewinnen, war bestimmt nicht schwer, denn für die vielfältig begabte Künstlerin gilt nur das Primat der Kunst, auch wenn sie weniger rentabel oder gar brotlos – sprich: Eintritt frei – sein sollte.
Friedrich Kuhlaus (1786 – 1832) Grande Sonate concertante begann in einem fulminanten Allegro con passione, dessen Länge und überraschende Tempodrosselungen leicht zur Annahme verleiten konnten, daß das Werk ohne Satzpausen dargeboten würde. Die Befürchtung, dass sich hier ein ermüdendes musikalisches Virtuosenexperiment anbahnen könnte, verflog schnell im folgenden Scherzo. In lieblichem Reigen schien mal das Klavier, mal die Querflöte zu enteilen, um immer wieder von der Spielgefährtin eingeholt zu werden. Das Adagio mit Kadenzfreiheiten und das Rondo, geprägt von ineinander verwobenen Läufen mit wechselseitiger Dominanz, boten den zahlreichen Zuhörern erste musikalische Höhepunkte.
Foto: Helmut Graf
FotoQuelle: KK 989
Als vor dem Einsatz zum zweiten Stück Bärbel Danek, zurzeit Soloflötistin des Philharmonischen Orchesters der Stadt Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier, als Wahlkriterium für die Suite für Flöte und Klavier von Hans Peter Türk (geboren 1940 in Hermannstadt/Siebenbürgen) die Ausdruckskraft erläuterte, mit der in diesem Werk das Thema Abschied zur Geltung kommt, und sie mit ihrem eigenen Aussiedlerschicksal verknüpfte, war klar, daß hier Musik als intellektuelles Geflecht aus Geschichts-, Kunst- und Gesellschaftsbewußtsein dargeboten wird. Daß das siebenbürgisch-sächsische Volkslied höchsten musikalischen Ansprüchen genügen kann, wenn sich ein guter Komponist seiner annimmt, ist bereits im Perpetuum mobile mit seinen schier unendlichen Klagerufen der Flöte, die nur ab und zu vom Klavier punktiert und diskret unterbrochen werden, zu erkennen. Im Notturno mündet das Wehklagen in lange, in allen Lagen sehr weiche Flötentöne. Doch dann erklingen Groteske-Variationen im Unisono. Das Klavier signalisiert Entschlossenheit, will die verzagte Flöte aufmuntern, reißt sie mit in einen gemeinsamen Satzendspurt. Doch gleich darauf erfolgt der Rückfall ins beharrliche Ostinato der Klagerufe. Schicksalhafter, nur an den instrumentalen Gestaltungsgrenzen des Fortissimos sich brechender Abschiedsschmerz erfüllt den Raum, um dann in ein resignierendes Pianissimo possibile zu sinken.
Den Übergang zu etwas heiterer, stimmungsvoller Atmosphäre schaffte das Duo mit der First Sonata for Flute and Piano des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinu (1890 – 1959). Ein Hauch von neuer Welt – Bohuslav war Weltenbummler, lebte in Prag, Paris, den USA, in Italien und in der Schweiz -, aber auch viel Naturnähe verspürte man besonders in dem Allegro moderato. Im Adagio lag eine schwer erkennbare Melodie verborgen. Das folgende Allegro poco moderato entschädigte die Zuhörer aber dann für die kleine Mühe im zweiten Satz. Schöne, freudig erregte Phrasierungen stimmten auf ein grandioses Finale ein.
Das Cantabile et presto des Rumänen George Enescu (1881 – 1955) stand als Konzertabschluß, wohl auch als Höhepunkt gedacht, an. Die rumänische Folklore steht bei Enescu zwar Pate, wirkt aber in keiner Passage dominant. Wie ein klarer Gebirgsbach plätscherte die Melodienfolge dahin, gar nicht fremd, nur „anders“. Anders schön und leider viel zu kurz war diese Flötenperle in der Interpretation des Ingolstädter Duos.
Unter stürmischem Applaus verließen die Musikerinnen das Podium. Zugabe: Variationen zu „Du, du liegst mir im Herzen“, wahrscheinlich auch als Hommage für ein dankbares Publikum auserkoren. Solchen Musikgenuß können nur von Idealen getragene Musikerinnen vermitteln, und wenn ich mir das überquellende Spendenkörbchen am Saalausgang vor Augen führe, dann freut mich der Gedanke, daß die wahre Kunst an diesem Abend doch nicht brotlos geblieben war.
 Anton Potche





aus KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ, Bonn, 
15. November 1996

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