Dienstag, 23. Oktober 2018

Unter lachender Sonne

Stimmen und Stimmungen zum Tag der deutschen Heimat

3. Oktober 1996. Tag der Deutschen Einheit. 11:30 Uhr. Nebel verhüllt die Stadt. Ich betätige die Fernbedienung und bin via Bildschirm beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in der Residenz zu München live dabei. Nach der Egmont-Ouvertüre tritt Edmund Stoiber, Ministerpräsident Bayerns und Bundesratspräsident, ans Rednerpult und beschwört die nationalstaaliche Eigenständigkeit als Grundstein für eine „europäische Friedensgemeinschaft“.
Bundespräsidentin Rita Süssmuth plädiert für die Pflege aller kulturellen und traditionellen Landsmannschaftswerte. Die bunte Andersartigkeit der deutschen Regionen fördere die Heimatgefühle der Menschen und mache Deutschland erst lebenswert. Das gilt jetzt, nach sechs Jahren Einheit mehr denn je, bleibt doch das so wichtige Verstehen des Andermanns für das weitere Zusammenwachsen unseres Landes auch in Zukunft von vordergründiger Bedeutung.
Nach einem Solo für Horn und Orchester von Richard Strauss schreitet der ungarische Ministerpräsident Gyula Horn zum Rednerpodest. Er würdigt die Deutsche Einheit als „Siegel auf dem Vertrag, den die Bürger Europas miteinander bereits geschlossen hatten“. Der Mann, dessen Verdienst am Öffnen des Eisernen Vorhangs unbestritten ist, spricht ergreifende Worte über die Ereignisse, die an der österreich-ungarischen Grenze dem Fall der Berliner Mauer vorausgingen. Seine Bewunderung für das deutsche Volk, für die Art und Weise, wie es das Geschichtserbe zweier Diktaturen bewältigt, klingt aufrichtig.
Und es hört sich wie ein Trost an, wenn er den Deutschen mit sachlichen Worten zu verstehen gibt, dass auch sein Volk eine unrühmliche Geschichtsperiode zu bewältigen hat: „Die ungarisch-deutschen und die deutsch-ungarischen Beziehungen haben neben vielen anderen auch einen speziellen emotionalen Aspekt. Nach 150 Jahren Besatzungszeit und einem über das Land fegenden Krieg wurden in den verwüsteten und entvölkerten Gebieten des damaligen Ungarn Schwaben und Sachsen angesiedelt, damit sie das Land bevölkern und durch ihre Kultur bereichern. Nicht nur die Geschichte, auch die ungarische Literatur bezeugt, dass die Nachfahren der Ansiedler in Ungarn eine wahre Heimat gefunden haben. Sie kämpften in den immer wieder aufflackernden Unabhängigkeitskriegen Schulter an Schulter mit den Ungarn. […] Eine verwerfliche Folge des für alle Völker verheerenden Zweiten Weltkrieges war die kollektive Brandmarkung und ungerechte Behandlung der in Ungarn lebenden deutschen Minderheit. Es ist bewegend, wie unsere einstigen Landsleute ihre Bindung an Ungarn bis zum heutigen Tag bewahrt haben und nun von Deutschland aus die alte Heimat besuchen. Nicht nur ihren in Ungarn gebliebenen Angehörigen zuliebe, nicht nur um Kindheitserinnerungen wach werden zu lasse, sondern auch, da sie die mit den Ungarn gemeinsame Donaulandschaft nicht vergessen können und wollen. Ungarn heißt die Ausgesiedelten unter den Nachbarn als Familienmitglieder willkommen. Kommen Sie und bringen Sie möglichst viele Freunde mit. Die Bürger Deutschlands können in Ungarn jederzeit mit Achtung und echter Gastfreundschaft rechnen.“
Der Nebel hat sich gehoben. Die Sonne beschert uns einen goldenen Herbstnachmittag. Ich radle mit Frau und Kindern durch die herbstgefärbten Donauauen um Ingolstadt und denke an die Rede des ungarischen Ministerpräsidenten. Und ich könnte sie, weiß Gott, deuten. Man kann alles zerreden und mit bohrenden Fragen nach der absoluten Wahrheit suchen. Das bleibt aber letztendlich doch nur ein fruchtloses Unterfangen, und das besonders heute, an diesem Feiertag, an diesem vereinenden Strom und unter dieser lachenden Sonne.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, 27. Oktober 1996

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