Stimmen und Stimmungen zum Tag der deutschen Heimat
3. Oktober 1996. Tag der Deutschen Einheit. 11:30 Uhr. Nebel
verhüllt die Stadt. Ich betätige die Fernbedienung und bin via Bildschirm beim Festakt
zum Tag der Deutschen Einheit in der Residenz zu München live dabei. Nach der
Egmont-Ouvertüre tritt Edmund Stoiber,
Ministerpräsident Bayerns und Bundesratspräsident, ans Rednerpult und beschwört
die nationalstaaliche Eigenständigkeit als Grundstein für eine „europäische
Friedensgemeinschaft“.
Bundespräsidentin Rita
Süssmuth plädiert für die Pflege aller kulturellen und traditionellen
Landsmannschaftswerte. Die bunte Andersartigkeit der deutschen Regionen fördere
die Heimatgefühle der Menschen und mache Deutschland erst lebenswert. Das gilt
jetzt, nach sechs Jahren Einheit mehr denn je, bleibt doch das so wichtige
Verstehen des Andermanns für das weitere Zusammenwachsen unseres Landes auch in
Zukunft von vordergründiger Bedeutung.
Nach einem Solo für Horn und Orchester von Richard Strauss schreitet der
ungarische Ministerpräsident Gyula Horn
zum Rednerpodest. Er würdigt die Deutsche Einheit als „Siegel auf dem Vertrag,
den die Bürger Europas miteinander bereits geschlossen hatten“. Der Mann,
dessen Verdienst am Öffnen des Eisernen Vorhangs unbestritten ist, spricht
ergreifende Worte über die Ereignisse, die an der österreich-ungarischen Grenze
dem Fall der Berliner Mauer vorausgingen. Seine Bewunderung für das deutsche
Volk, für die Art und Weise, wie es das Geschichtserbe zweier Diktaturen
bewältigt, klingt aufrichtig.
Und es hört sich wie ein Trost an, wenn er den Deutschen mit
sachlichen Worten zu verstehen gibt, dass auch sein Volk eine unrühmliche
Geschichtsperiode zu bewältigen hat: „Die ungarisch-deutschen und die
deutsch-ungarischen Beziehungen haben neben vielen anderen auch einen
speziellen emotionalen Aspekt. Nach 150 Jahren Besatzungszeit und einem über
das Land fegenden Krieg wurden in den verwüsteten und entvölkerten Gebieten des
damaligen Ungarn Schwaben und Sachsen angesiedelt, damit sie das Land bevölkern
und durch ihre Kultur bereichern. Nicht nur die Geschichte, auch die ungarische
Literatur bezeugt, dass die Nachfahren der Ansiedler in Ungarn eine wahre
Heimat gefunden haben. Sie kämpften in den immer wieder aufflackernden
Unabhängigkeitskriegen Schulter an Schulter mit den Ungarn. […] Eine
verwerfliche Folge des für alle Völker verheerenden Zweiten Weltkrieges war die
kollektive Brandmarkung und ungerechte Behandlung der in Ungarn lebenden
deutschen Minderheit. Es ist bewegend, wie unsere einstigen Landsleute ihre
Bindung an Ungarn bis zum heutigen Tag bewahrt haben und nun von Deutschland
aus die alte Heimat besuchen. Nicht nur ihren in Ungarn gebliebenen Angehörigen
zuliebe, nicht nur um Kindheitserinnerungen wach werden zu lasse, sondern auch,
da sie die mit den Ungarn gemeinsame Donaulandschaft nicht vergessen können und
wollen. Ungarn heißt die Ausgesiedelten unter den Nachbarn als
Familienmitglieder willkommen. Kommen Sie und bringen Sie möglichst viele
Freunde mit. Die Bürger Deutschlands können in Ungarn jederzeit mit Achtung und
echter Gastfreundschaft rechnen.“
Der Nebel hat sich gehoben. Die Sonne beschert uns einen
goldenen Herbstnachmittag. Ich radle mit Frau und Kindern durch die
herbstgefärbten Donauauen um Ingolstadt und denke an die Rede des ungarischen
Ministerpräsidenten. Und ich könnte sie, weiß Gott, deuten. Man kann alles
zerreden und mit bohrenden Fragen nach der absoluten Wahrheit suchen. Das
bleibt aber letztendlich doch nur ein fruchtloses Unterfangen, und das
besonders heute, an diesem Feiertag, an diesem vereinenden Strom und unter
dieser lachenden Sonne.
Mark Jahr
aus
DER DONAUSCHWABE, 27. Oktober
1996
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