Ernst Seiltgen und Michael Bleiziffer verlassen
das Stadttheater Ingolstadt
Der Ausklang der Theaterspielzeit 1994/1995 in Ingolstadt fiel auf Sonnabend, den 22. Juli 1995. Es war längst bekannt, daß mit der Freilichaufführung von William Shakespeares Schauspiel Der Sturm, in der deutschen Fassung August Wilhelm Schlegels, gleich zwei Prominente des städtischen Theaterbetriebes ihren Abschied von diesem sehr erfolgreichen Haus (170.000 Besucher/Jahr) nehmen werden: Ernst Seiltgen, Intendant, und Michael Bleiziffer, Regisseur.
Also strömten die Theaterfans, ausgerüstet mit Sitzkissen, Decken und... Regenschirmen, ins Oval des klassizistischen Turmbaus. Beim letzten „Über-die-Bühne-Gehen“ einer Bleiziffer-Inszenierung, unter der Intendanz eines Ernst Seiltgen, wollte man dabei sein. Das hieß mehr als Lokalpatriotismus bewusst erleben. In der Luft lag das Ende einer Ära. Professor August Everding persönlich war eine Woche vorher zu Seiltgens offizieller Pensionierung angereist, und der knapp gescheiterte Versuch des „Ingolstädter Freilicht-Experten“ – so schwärmte die Regionalpresse von Bleiziffer bereits in der Ankündigung der „Sturm“-Erstaufführung (24. Juni 1995) - die Intendantenarbeit seines künstlerischen Ziehvaters fortzusetzen, hatte schon Monate im voraus für Gesprächsstoff gesorgt. Erwartete Theaterkultur auf höchstem Niveau, aber auch Kulturpolitik mit ihren oft unverständlichen Folgen verliehen dieser letzten Aufführung vor den Ferien eine besondere Spannung.
Also strömten die Theaterfans, ausgerüstet mit Sitzkissen, Decken und... Regenschirmen, ins Oval des klassizistischen Turmbaus. Beim letzten „Über-die-Bühne-Gehen“ einer Bleiziffer-Inszenierung, unter der Intendanz eines Ernst Seiltgen, wollte man dabei sein. Das hieß mehr als Lokalpatriotismus bewusst erleben. In der Luft lag das Ende einer Ära. Professor August Everding persönlich war eine Woche vorher zu Seiltgens offizieller Pensionierung angereist, und der knapp gescheiterte Versuch des „Ingolstädter Freilicht-Experten“ – so schwärmte die Regionalpresse von Bleiziffer bereits in der Ankündigung der „Sturm“-Erstaufführung (24. Juni 1995) - die Intendantenarbeit seines künstlerischen Ziehvaters fortzusetzen, hatte schon Monate im voraus für Gesprächsstoff gesorgt. Erwartete Theaterkultur auf höchstem Niveau, aber auch Kulturpolitik mit ihren oft unverständlichen Folgen verliehen dieser letzten Aufführung vor den Ferien eine besondere Spannung.
Pünktlich um 20:30 Uhr ging’s dann los, doch nicht nach
der Regie Bleiziffers,
sondern nach der des Spielleiters aller Zeiten und Räume. Windböen brachten
Blitz, Donner und Regen. Nur ein paar Standhafte bleiben auf den
Zuschauerrängen. Die meisten flüchteten in den Turm. Einige stiegen in die
Gänge des Obergeschosses und hielten Ausschau nach Westen. „Es wird hell“, rief
eine Stimme. Der Sturm legte sich. Der
Sturm konnte beginnen. Er war auf der Bühne schon in seinem Entstehen eine
Meisterleistung Michael Bleiziffers. Szenenapplaus begleitete die unruhige See
aus Stoff, Seilen und Statisten. Sie versanken in den Fluten, die Mächtigen,
aber auch Gierigen, Korrupten, Unbarmherzigen aus Neapel und Mailand, Alonso, König von Neapel, und Antonio, unrechtmäßiger
Herzog von Mailand, mit all ihren Begleitern. Wie gerecht muß
diese Strafe gewesen sein, die Prospero, Antonios verbannter Bruder, mit Hilfe
des Luftgeistes Ariel heraufbeschworen hatte, dass der Sturm selbst nach
Jahrhunderten nicht enden wollte? Heftiger Regen setzte von neuem ein. Die
Aufführung wurde unterbrochen. Sogar der Himmel schien Seiltgen und Bleiziffer halten zu wollen. Dem Sturm
wurde der nötige Respekt gezollt. Der
Sturm wurde auf den Sonntagabend verschoben.
Und siehe da: Sie kamen wieder mit ihren Kissen, Decken
und… Regenschirmen, die glückseligen Menschen, die das Leben in Kurzfassung so
lieben. Die Wolken hingen noch immer tief. Werden Seiltgen und Bleiziffer ewig bleiben müssen? Der Sturm brach aus. Er wütete in den
Herzen der Unersättlichen, er entfachte die Romeo-und-Julia-Geschichte in
Ferdinand und Miranda, aber er gestattete auch Trinculo
und Stephano, einen skurril anmutenden, mit viel
komödiantischer Gestik bestückten Freiheitstraum in derbem Volkshumor zu
veranschaulichen. Bleiziffers
Sturm wurde von keinem Sturm
unterbrochen. Stürmisch raste bloß die Zeit, denn drei Stunden absoluten
Theatergenusses waren vorbei. Michael
Bleiziffer, der Spielleiter, hat dem genialen Bühnenschriftsteller William Shakespeare in beeindruckender
Art und Weise seine Reverenz erwiesen. So macht man großes Theater, Kunst pur,
in der sowohl der Mensch als Schöpfung des dichterischen Genius wie auch der
Darsteller als begnadeter Umsetzer der Regieansprüche im Mittelpunkt des
Geschehens bleiben. Ein zurückhaltender aber in seiner Gestaltungskraft stets
aussagekräftiger Bühnenbildner ist natürlich für die angepeilten Ziele eines
Regisseurs unverzichtbar. Bleiziffers Zusammenarbeit mit dem erfahrenen
Bühnengestalter Konrad Kulke hat sich auch diesmal bewährt.
Nach Prosperos ergreifendem Schlußmonolog
brauste stürmischer Beifall dem Ensemble entgegen, und Ernst Seiltgen betrat die Bühne. Wohl zum
letzten Mal. Grabesstille. Seine helle, freundliche Stimme klang nach
Prophezeiung und Beschwörung zugleich: „Zu unserem Leben gehört das Wechseln
wie das Atmen.“ Der selbst scheidende Intendant begann viele Beschäftigte eines
der besten nichtstaatlichen Theater Bayerns mit einer Kurzvita, einem
herzlichen Dankeschön, einer Rose und vielen guten Wünschen für die Zukunft zu
verabschieden.
Alphabetsbedingt war Michael Bleiziffer der erste der Scheidenden, und spätestens jetzt
erfuhr auch der kulissenunkundige Theaterliebhaber, wer dieser hochgewachsene,
langhaarige Künstler ist, der 13 Jahre lang die Ingolstädter mit 51
hochkarätigen Inszenierungen beglückte. Originalton Seiltgen: „Ich habe ihn bei
einer meiner Inszenierungen in Temeswar gefunden. […] Er saß da herum und
durfte nicht arbeiten, weil er etwas zu keck geworden war, was
Ceaușescu mißviel. […] Michael Bleiziffer wird in Zukunft als freischaffender
Künstler tätig sein.“ Sie umarmten sich, der Mentor und sein Schützling. Der
Applaus wollte nicht enden. Bravo-Rufe. Gänsehaut. (Michael Bleiziffer in dem Buch 22 Jahre Theater für Ingolstadt; Intendanz
Ernst Seiltgen 1973 bis 1995: „Als ich Ernst Seiltgen 1980 bei seiner Gastinszenierung in Temeswar
kennenlernte, konnte ich noch nicht wissen, dass diese Begegnung mein Leben
verändern würde. […] Wenn ich an meine ersten Inszenierungen in Ingolstadt
denke, die weder beim Publikum noch beim damaligen Ensemble auf bedingungslose
Akzeptanz gestoßen sind, so muß ich zwei Aspekte
hervorheben: Seiltgen ermöglichte und ließ Reibung
zu.“)
Michael Bleiziffer
Foto: Salzburger Landestheater
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Die letzte Rose war vergeben, die letzte Amtshandlung
eines Theatergiganten, der laut Professor Everding
„die Ambition hatte, Theater für seine Stadt“ zu machen, vollbracht.
Oberbürgermeister Peter Schnell
betrat, einen schweren Werkzeugkoffer schleppend, die Bühne. Ernst Seiltgen
soll ein begabter Handwerker sein. Es gibt ja Menschen, deren Hände können, was
die Augen sehen. Ingolstadts Intendant a. D. ist einer jener angenehmen
Zeitgenossen, die alles anpacken, täglich „learning by doing“ (ohne gescheite
Managerratschläge) praktizieren, Risiken nie scheuen und auch aus Rückschlägen
Mut zum Weiterschreiten schöpfen. Das „Holen“ des 1953 in Sanktanna
geborenen Michael Bleiziffer nach
Ingolstadt war eines seiner Verdienste um die Theaterkultur dieser Stadt. Es
bleibt wohl kennzeichnend für das fruchtbare Zusammenwirken zweier
Theatergrößen aus zwei Generationen, wenn Modernes und Traditionelles sich
gegenseitig auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ergänzen. Auch die
verantwortlichen Politiker Ingolstadts haben das längst erkannt. Nicht zufällig
beendete OB Peter Schnell seine
wörtliche Verabschiedung Ernst Seiltgens in den wohlverdienten Ruhestand mit den
Worten: „Und wir hoffen, dass auch Herr Bleiziffer in Zukunft einer der unseren
bleiben wird. Alles Gute, Michael Bleiziffer!“
Anton Potche
aus BANATER POST, München, 20. September
1995
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ, Bonn, 30. Oktober 1995
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ, Bonn, 30. Oktober 1995
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