181
Beteiligte beim Ostdeutschen Erzählwettbewerb
Am 21. Erzählwettbewerb der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat
(Herbst 1992) haben sich 181 Autorinnen und Autoren beteiligt. Das Thema
"Grenzen überschreiten - zueinander finden" ermöglichte es, laut Georg Aescht,
dem für Literatur und Kunst zuständigen Redakteur der Zeitschrift
KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ, einen repräsentativen Überblick über die
Bemühungen zur literarischen Aufarbeitung jüngerer und jüngster Vergangenheit zu
gewinnen.
Die fünf
preisgekrönten Arbeiten stammen von Frauen und Männern zweier Generationen, die
den trennenden Charakter von Grenzen gleichsam schmerzlich empfunden haben, und
das über viele Jahrzehnte hinweg, bis in unsere Gegenwart, in der Mauern und
Zäune zwar fallen, geistige Stachel aber eine endgültige Annäherung der Menschen
aus verschiedenen Regionen weiterhin verzögern.
Johannes
Birringer, 1953 in Schmelz/Saarland geboren, der zur Zeit eine Professur für
Angewandte Theaterwissenschaft an der Northwestern University/Chicago versieht,
versucht in seinem Brieftext "Grenzland" die Impressionen eines Berlinbesuches
aus zeitlicher und geographischer Entfernung zu verarbeiten; ein nicht
problemloses, aber letztendlich literarisch gelungenes Unterfangen, das durchaus
ein Nachdenken über die Bedeutsamkeit eines Deutschlandbildes im Ausland beim
Leser auslösen kann. "Die Zweiheit Deutschlands war mir nur theoretisch bewußt,
trotz meiner frühen Besuche in Berlin, der Augenblicke der Mauerschau, in denen
man, wie im klassischen Theater, von den entscheidenden Szenen der Tragödie, dem
Schlachten, dem Morden, dem Inzest, dem Verrat, nur durch Berichterstattung
erfährt."
"Heimkehr nach
Sirmio" nennt Edith Hartmann, 1927 in Karlsbad geboren, ihren
Heimatbesuch. Vergeblich versucht die auch als Grafikerin und Illustratorin
tätige freiberufliche Schriftstellerin die Stadt ihrer Kindheit in ein 45 Jahre
lang von ihrer Erinnerung geprägtes Bild zu zwängen. Sie fällt bald um. Die
Realität ist stärker: "Ich brauche nur die Stadt, die all' mein Kindsein birgt,
die Stadt, die, und sei sie auch im Aschenbrödelkleid, für mich die schönste ist
und bleibt: Karlsbad. Nun habe ich ihren wirklichen Namen genannt und sie aus
Erinnerung und Sehnsucht in die Gegenwart gedrückt." Das Schöne an dieser
Rückkehr ist, daß die neu gewonnenen Eindrücke sich mit der alten Liebe vereinen
und eventuelle Ressentiments im Keim ersticken. "Das Elternhaus meines Vaters
steht noch. Kein Großvater, keine Großmutter kann kommen, kein Onkel, keine
Tante und keiner meiner Cousins, um mich zu begrüßen. Aber es sind freundliche
Menschen, die auf uns zukommen und sich freuen."
"Die Nacht". Diese
Erzählung hätte man eher einem Vertreter der Kriegsgeneration zugetraut. Sie
wurde aber von einem Mann geschrieben, dem das Geschehene seiner Erzählung noch
selbst hätte widerfahren können. Günter Hein wurde 1942 in Schweinfurt
geboren. Er begleitet in Oberwerrn das Amt des Studiendirektors. "Die Nacht"
beginnt verhängnisvoll, wie alles, was vom Krieg verursacht wurde, aber sie
endet nach einer knisternden Spannung mit einem erleichterten Aufatmen des
Lesers. Allerdings erlebt man hier nicht das übliche Happy End eines
Kitschromans, sondern man fühlt die Beruhigung über die gewonnene Erkenntnis,
daß der Krieg doch nicht alles Menschliche im Menschen zerstören kann.
So viel
Vergangenheit wurde in der Literatur aufgearbeitet. Die schier unermeßbare
Bandbreite der Gefühle von Menschen in Extremsituationen, die durch Gewalt und
Todesangst entstehen, hat zum Teil in der Literatur dieses ausklingenden
Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen. Die größte Hochachtung gebührt dabei
wohl jenen Schriftstellern, die den Versuch nicht scheuten, die Seelen der
Kinder, die unmenschlichen, von ihnen rational nicht erfaßbaren Gewalttaten
ausgesetzt sind, zu ergründen. Rita E. Langel hat den Versuch in der
Erzählung "Wer kennt schon den Augenblick" erfolgreich unternommen. Die Autorin
erblickte im Jahre 1947 in Bayern das Licht der Welt. Möglicherweise ist es ihr
Alter/ihre Jugend, das/die dafür verantwortlich ist, daß es am Schluß der
Erzählung trotzdem heißt: "Sie kennen beide das Trennende ihrer Jahre, treffen
sich im Wort, betreten Niemandsland, neutrales Gebiet, überschreiten ihre
Grenzen, setzen den Fuß auf bekanntes Terrain, auf gemeinsamen Grund und Boden.
Sie lachen."
Teil unserer
jüngsten Geschichte ist zweifellos der oft tödliche Versuch Deutscher, die
deutsch-deutsche Grenze physisch zu überwinden. Die 1923 in Eberswalde bei
Berlin geborene Eva Zeller, Mitglied des deutschen PEN-Zentrums,
der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Akademie der
Wissenschaften und der Literatur im Mainz, hat sich in der Erzählung "Potsdamer
Platz" dieser Tragik angenommen. Wer diese Geschichte liest und sich so seine
Gedanken darüber macht, wird wohl oder übel zu der Einsicht gelangen, daß es
eine gerechte Aufarbeitung dieser Problematik nie, und wenn doch, nur in
Einzelfällen, geben kann. Zu unterschiedlich sind die Konturen zwischen Opfer
und Täter. Während die einen klar und deutlich erkennbar sind, werden die
anderen immer verwischter und undeutlicher.
Die Zeiten des
sichtbaren Grenzniedergangs sind angebrochen. Wir haben das Glück, ihre Zeugen
zu sein.
Mark Jahr
aus DER
DONAUSCHWABE,
Aalen,
10. Oktober 1993
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