Der
Teufel sitzt im Spiegel. Dort soll er auch bleiben, denn dieses Buch macht mir
genug zu schaffen. Was soll denn das? Kein Roman, keine Erzählungen, keine Essays,
keine philosophischen Abhandlungen - zumindest nicht im traditionellen Sinn. Was
dann? Texte. Einfach Texte. Wie gut, dass es diesen verallgemeinernden Begriff
gibt. Texte von Herta Müller. Texte, die es aber in sich haben. Ich lese
mich durch den ersten, den zweiten, den... Es langt. Auf die folgenden verzichte
ich. Dann lese ich doch weiter und weiter. Texte über das Bücherschreiben.
Natürlich nicht über das allgemeine Bücherschreiben, sondern über Herta
Müllers Art zu schreiben.
Eine
zügellose Phantasie, die alle gesellschaftlichen Normen mißachtet, sie als
Fesseln empfindet, entblößte sich in der Sprache und kreierte die bisherigen
Werke. Angeboren, oder beeinflußt von der Enge des Dorfes? "Was ich im
nachhinein noch genau weiß, was mich daran erschreckt, ist, daß ich damals
nicht vor der erfundenen Wahrnehmung Angst hatte, sondern vor der Tatsache, daß
man das weiß. Meine größte Arbeit war, das, was im Kopf stand, zu verstecken.
Das Täuschen war die Arbeit meiner Kindheit." Jeder kannte jeden. Da
konnte doch nichts verborgen bleiben. Die nagende Indiskretion entfesselte hier
einen literarischen Abwehrmechanismus. "Insofern war eine Ebene meines
Schreibens das banatschwäbische Dorf und meine Kindheit... Auf dem Land war der
deutsche Frosch der Aufpasser, der Ethnozentrismus, die öffentliche Meinung.
Der deutsche Frosch legitimierte diese Kontrolle des einzelnen mit einem
Vorwand. Der Vorwand hieß: Bewahren der Identität."
Dieser
in der Kindheit der Schriftstellerin zu suchende Verfolgungswahn erwies sich
später als böse Vorahnung einer dann eingetretenen staatsbehördlichen
Verfolgung. "Es waren Jahre des Frosches, die Jahre in Rumänien. Zum
deutschen Frosch kam der Frosch des Diktators hinzu. Vielleicht reichen 32 Jahre
des Frosches aus, sich den wachsamen Blick anzueignen, bei allem, was man
sieht." Die Unerträglichkeit des unmittelbar Erlebten entlud sich
schließlich im Schreiben. "Es ist immer, wenn ich schreibe, der Punkt
erreicht, wo ich mit mir selber (und das heißt auch mit dem, was mich umgibt)
nicht mehr umgehen kann." Unter dem Diktat der Zensur gedieh oder wucherte
eine Durch-die-Blume-Sprache, bei Herta Müller eine Durch-die-Dornen-Sprache.
"Der verschwiegene (ausgelassene) Satz muß mit der gleichen Lautstärke
sprechen wie der geschriebene Satz." Das Absurde, auch Abstruse,
entwickelte sich zu einem poetischen Credo, das maßlosen Übertreibungen in
entstehenden Phantasiegebilden Raum öffnete. "Ich muß die poetische
Abweichung ins Unmaß an jeden Punkt der Erfahrung, die ich jemals gemacht habe,
ansetzen. So kommt es, daß selbst Autobiographisches, Eigenes im engsten Sinne
des Wortes, nur noch im weitesten Sinne des Wortes mit meiner Autobiographie zu
tun hat." Dieses angeeignete oder auch aufgebürdete Credo konnte sich bis
zur Abstraktionierung der Schreibenden selbst steigern. "Die Person, die
schreibt, ist eine erfundene Person. Auch für sich selbst." Das Resultat
dieser Entwicklung ist bekannt. Es hat zu Bewunderung und Anerkennung ebenso wie
zu Verachtung und Ablehnung geführt.
Hier muß doch wohl die Frage
erlaubt sein, ob literarisches Schaffen im Trancezustand ein Mindestmaß
an Glaubwürdigkeit vermitteln kann. "Ich war unerreichbar für mich
während des Schreibens. Ich war es nicht gewesen, denn ich hatte mit mir,
wie ich bin, nachdem ich den Text geschrieben habe, nichts zu tun."
Oder sollen diese Beichtsätze gar als eine Entschuldigung für anmaßende
literarische Entgleisungen, etwa im Sinne eines politischen Blackouts,
aufgefaßt werden? Es klingt fast wie Resignation vor der eigenen
Kreativitätswut, wenn es einige Seiten weiter heißt: "Und jedesmal
habe ich den Eindruck, durch diese Sätze etwas in Gang gesetzt zu haben,
was ich weder beeinflussen noch verantworten kann."
Nur keine Angst oder falsche Hoffnungen: Herta
Müller schreibt weiter, aber keine Romane oder Erzählungen in
altbewährter, für jeden Durchschnittsbürger zugänglichen Form, sondern
in Bildern. "Ich glaube, die erfundene Wahrnehmung verläßt sich in
ihrer Ganzheit auf Bilder. Ich glaube auch, daß die erfundene Wahrnehmung
Worte gar nicht mag. Daß es deshalb so lange dauert, bis ich weiß, wie
der Satz, den ich schreibe, sich selber sieht." Wer weiß, was es
heißt, eine moderne Kunstausstellung zu besichtigen, der kann sich auch
vorstellen, was es heißt, ein Buch von Herta Müller zu lesen. Man
hat da wie dort seine Probleme, versucht man doch manchmal vergebens, das
wirklich Schöne in so viel Geometrie zu finden. "Ja, da waren
rundherum nur Gegenstände, die bestimmten, was ich tat. Und sie
bestimmten noch viel mehr. Auch was ich mir dachte, bei dem, was ich
tat." Selbst ein sich wandelndes Straßenbild führt zu Irritationen
durch eine bis zum Nonsens gesteigerte Negation des wahrgenommenen
Augenblicks. "Und die Wahrnehmung wird, da ich als andere aus der
Irre komme, eine andere, als sie vorher geworden wäre. Auch hat sich die
Straßenseite, für die ich mich dann doch entschieden habe, in der Zeit,
in der ich das tat, schon geändert: die Gegenstände, wo die Haut zu Ende
ist, sind anders. Die Gesichter, die Autos. Ich habe nicht mehr die
Möglichkeit, auf der Straße zu gehen, auf der ich vorher gegangen
wäre."
Wird es
eine andere literarische Straße für Herta Müller geben? Die Vergangenheit
ist zwar nicht verdrängbar. Sie lebt in Äußerlichkeiten, nach denen
Betroffene immer Ausschau halten. "Die Lautsprecherstimme sagte mir, was
ich gesehen hatte: der Mann kam aus Rumänien... Ein ganzes mir bekanntes Land,
saß am Nebentisch. Ich hatte es sofort wiedererkannt." Die Vergangenheit
rückt aber immer weiter ab. Und sie überlistet die Menschen. Sie schwächt die
Härten erlebter Schikanen ab.
Es geht auch Herta
Müller so. Man kann das aus der Sprache des zweiten Buchteiles herauslesen.
Die "Texte über Augen und Sinne" lassen sogar die Vermutung zu, daß
die vorangestellten "Gedanken zum Schreiben" ein Schlußstrich sein
könnten. Trotzdem ist Vorsicht geboten, denn "der Teufel sitzt im
Spiegel".
Mark
Jahr
aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 27. Oktober 1991
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen