Um diese Zeit war Gorbatschow
bereits vorübergehend entmachtet und das Schicksal der Sowjetdeutschen genauso
in Frage gestellt wie das der ganzen Sowjetunion. Nur drei Tage später war
erkennbar, daß Jelzins Rußland in Zukunft der Machtfaktor Nr. 1 in
einem losen, noch nicht definierten sowjetischen Staatenbund sein wird. Ob man
da bald eher von Rußlanddeutschen als von Sowjetdeutschen reden muß?
Heinrich Groth,
der Vorsitzende der Unionsgesellschaft der sowjetdeutschen
"Wiedergeburt", gibt sich in einem Interview der Moskau News
vom August optimistischer: "Die ältere Generation erinnert sich der
Deutschen als friedlicher und arbeitsamer Nachbarn. Die demokratischen
Bewegungen, in erster Linie das 'Demokratische Rußland', sind zu unseren
Verbündeten geworden." Auf die Frage nach der deutschen Aussiedlung ist
anklingende Resignation spürbar: Das ist eine schmerzhafte Frage. Wenn das
Tempo der Ausreise anhält, kann man die Geschichte der deutschen Siedler in
Rußland in einigen Jahren als abgeschlossen betrachten. Ich meine, daß die
Wiederherstellung der deutschen Autonomie im Wolgagebiet die einzige
Möglichkeit ist, einem solchen Ausgang entgegenzuwirken." Wie groß das
Fragezeichen hinter der Wiedererrichtung einer Republik der Wolgadeutschen trotz
des Inkrafttretens des vom Obersten Sowjet der Russischen Föderation
verabschiedeten Gesetzes über die Rehabilitierung der Völker, die Repressalien
ausgesetzt waren, ist, verdeutlichen die Worte des Vorsitzenden der Kommission
für nationale und staatliche Ordnung und zwischennationale Beziehungen des
Nationalitätensowjets des Obersten Sowjets der Russischen Föderation, Nikolai
Medwedjew: "An die Orte, aus denen in den dreißiger bis fünfziger
Jahren einerseits Völker deportiert wurden, siedelte man Menschen anderer
Nationalitäten an... Die neuen Siedler bestellten den Acker, bestatteten die
Verstorbenen und brachten ihre Kinder zur Welt. Seitdem (es sind inzwischen fast
50 Jahre vergangen) ist die Bevölkerung dieser leidgeprüften Gebiete auf das
Doppelte und Dreifache gewachsen. Was soll man heute unternehmen? Soll man eine
weitere Deportation durchführen, die Rechte der einen wiederherstellen und die
der anderen damit verletzen?... Unter den Bewohnern des Saratower Gebiets gibt
es nicht wenige, die gegen die Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen
protestieren."
Tatsache ist, daß
die Deutschen massenweise die Sowjetunion verlassen. Ihre Vorfahren wurden 1764
von Katharina der Großen gerufen. 1918 wurde die Autonome Republik der
Wolgadeutschen gegründet. Bereits 1941 liquidierte Stalin die junge
Republik und deportierte die Deutschen nach Kasachstan, Kirgisien, Nowosibirsk
und Omsk, wo die Arbeitsfähigen in den damaligen Arbeitsarmeen eingesetzt
wurden. Als Grund für diese Maßnahmen wurde eine (natürlich absurde)
Kollektivmitschuld der Wolgadeutschen am Überfall Hitlerdeutschlands auf die
Sowjetunion angegeben. Wie Millionen Deutsche im Osten und Südosten Europas
haben auch sie, allen Schikanen zum Trotz, überlebt. Ihr Gespür für lauernde
Existenzbedrohungen ist aber heute schärfer denn je. Sie sehen keine Zukunft
mehr im zerfallenen Sowjetreich. Sie konnten die Lage in ihrem Land in den
letzten Jahren weit realistischer beurteilen als so manche Rußlandkenner aus
dem Westen. Die Folge der erlangten Erkenntnisse war und ist heute mehr denn je
die Ausreise nach Deutschland, die Flucht vor einem sich anbahnenden nationalen
Chaos.
Hätten westliche
Politiker und Sowjetunionexperten die Auswanderungsgründe der Sowjetdeutschen
gründlicher analysiert, dann hätten sie den Ereignissen vom 19. August weit
weniger überrascht gegenübergestanden. Wer bei uns übrigens für eine
Aussiedlerzuzugsbeschränkung plädiert, sollte bedenken, daß er damit nur ein
zusätzliches konfliktförderndes Nationalitätenproblem der Noch-Sowjetunion
ignoriert. Durch die vorurteilslose Aufnahme der ausreisewilligen Deutschen aus
der Sowjetunion würde man der Zentralregierung in Moskau einen größeren
Dienst erweisen als durch das Gewähren von zusätzlichen Geldsummen, die zur
Milderung der aufbrechenden Nationalitätenkonflikte sowieso nicht beitragen
können.
Anton Potche
aus BANATER POST, München,
20. September 1991
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