Mittwoch, 3. Juli 2013

Aussiedler - ein natürliches Politbarometer

In der Badischen Zeitung vom 19. August 1991 war unter der Überschrift "Jelzin unterstützt Sowjetdeutsche" zu lesen: "Der russische Präsident Jelzin hat versprochen, den Sowjetdeutschen bei der Wiederherstellung ihrer Autonomie zu helfen... Zugleich verwies Jelzin auf den örtlichen Widerstand im Gebiet der ehemaligen deutschen Wolgarepublik."
Um diese Zeit war Gorbatschow bereits vorübergehend entmachtet und das Schicksal der Sowjetdeutschen genauso in Frage gestellt wie das der ganzen Sowjetunion. Nur drei Tage später war erkennbar, daß Jelzins Rußland in Zukunft der Machtfaktor Nr. 1 in einem losen, noch nicht definierten sowjetischen Staatenbund sein wird. Ob man da bald eher von Rußlanddeutschen als von Sowjetdeutschen reden muß?
Heinrich Groth, der Vorsitzende der Unionsgesellschaft der sowjetdeutschen "Wiedergeburt", gibt sich in einem Interview der Moskau News vom August optimistischer: "Die ältere Generation erinnert sich der Deutschen als friedlicher und arbeitsamer Nachbarn. Die demokratischen Bewegungen, in erster Linie das 'Demokratische Rußland', sind zu unseren Verbündeten geworden." Auf die Frage nach der deutschen Aussiedlung ist anklingende Resignation spürbar: Das ist eine schmerzhafte Frage. Wenn das Tempo der Ausreise anhält, kann man die Geschichte der deutschen Siedler in Rußland in einigen Jahren als abgeschlossen betrachten. Ich meine, daß die Wiederherstellung der deutschen Autonomie im Wolgagebiet die einzige Möglichkeit ist, einem solchen Ausgang entgegenzuwirken." Wie groß das Fragezeichen hinter der Wiedererrichtung einer Republik der Wolgadeutschen trotz des Inkrafttretens des vom Obersten Sowjet der Russischen Föderation verabschiedeten Gesetzes über die Rehabilitierung der Völker, die Repressalien ausgesetzt waren, ist, verdeutlichen die Worte des Vorsitzenden der Kommission für nationale und staatliche Ordnung und zwischennationale Beziehungen des Nationalitätensowjets des Obersten Sowjets der Russischen Föderation, Nikolai Medwedjew: "An die Orte, aus denen in den dreißiger bis fünfziger Jahren einerseits Völker deportiert wurden, siedelte man Menschen anderer Nationalitäten an... Die neuen Siedler bestellten den Acker, bestatteten die Verstorbenen und brachten ihre Kinder zur Welt. Seitdem (es sind inzwischen fast 50 Jahre vergangen) ist die Bevölkerung dieser leidgeprüften Gebiete auf das Doppelte und Dreifache gewachsen. Was soll man heute unternehmen? Soll man eine weitere Deportation durchführen, die Rechte der einen wiederherstellen und die der anderen damit verletzen?... Unter den Bewohnern des Saratower Gebiets gibt es nicht wenige, die gegen die Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen protestieren."
Tatsache ist, daß die Deutschen massenweise die Sowjetunion verlassen. Ihre Vorfahren wurden 1764 von Katharina der Großen gerufen. 1918 wurde die Autonome Republik der Wolgadeutschen gegründet. Bereits 1941 liquidierte Stalin die junge Republik und deportierte die Deutschen nach Kasachstan, Kirgisien, Nowosibirsk und Omsk, wo die Arbeitsfähigen in den damaligen Arbeitsarmeen eingesetzt wurden. Als Grund für diese Maßnahmen wurde eine (natürlich absurde) Kollektivmitschuld der Wolgadeutschen am Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion angegeben. Wie Millionen Deutsche im Osten und Südosten Europas haben auch sie, allen Schikanen zum Trotz, überlebt. Ihr Gespür für lauernde Existenzbedrohungen ist aber heute schärfer denn je. Sie sehen keine Zukunft mehr im zerfallenen Sowjetreich. Sie konnten die Lage in ihrem Land in den letzten Jahren weit realistischer beurteilen als so manche Rußlandkenner aus dem Westen. Die Folge der erlangten Erkenntnisse war und ist heute mehr denn je die Ausreise nach Deutschland, die Flucht vor einem sich anbahnenden nationalen Chaos.
Hätten westliche Politiker und Sowjetunionexperten die Auswanderungsgründe der Sowjetdeutschen gründlicher analysiert, dann hätten sie den Ereignissen vom 19. August weit weniger überrascht gegenübergestanden. Wer bei uns übrigens für eine Aussiedlerzuzugsbeschränkung plädiert, sollte bedenken, daß er damit nur ein zusätzliches konfliktförderndes Nationalitätenproblem der Noch-Sowjetunion ignoriert. Durch die vorurteilslose Aufnahme der ausreisewilligen Deutschen aus der Sowjetunion würde man der Zentralregierung in Moskau einen größeren Dienst erweisen als durch das Gewähren von zusätzlichen Geldsummen, die zur Milderung der aufbrechenden Nationalitätenkonflikte sowieso nicht beitragen können.
Anton Potche
aus BANATER POST, München, 20. September 1991

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