Zur
Lesung Herta Müllers in Ingolstadt, Ende Februar
Die
in Nitzkydorf/Banat geborene Herta Müller las am 22. Februar im Studio
des Ingolstädter Herzogskastens aus ihren Werken. Es waren diesmal zwei
unveröffentlichte Texte.
Der
erste war eine, der Form nach dem Essay nahestehende, Auseinandersetzung mit den
Beweggründen zur Heimataufgabe und der Problematik der Suche nach neuen
Lebensinhalten in einer fremden Welt. Die Sätze dieses Textes, die kaum ein Komma
benötigten, sind in ihrer Knappheit zwar nicht neu, die klaren, man
könnte meinen, einer sorgfältigen politisch-sozialen Analyse entsprungenen
Aussagen, die sie aber enthalten, sind bei Herta Müller zumindest
ungewöhnlich: "Alles ist bewacht... Wenn die Bewachung nicht wirklich ist,
ist sie in der Vorstellung... Das Gegenständliche ist verschwunden. Man hat
nichts mitgenommen, außer sich selbst."
Wer nun glaubte, an diesem Abend
eine neue, in ihrer Sprache gewandelte Schriftstellerin zu erleben, der
wurde bald eines Besseren belehrt.
"Das Land am Nebentisch oder Avram"
war der zweite Prosatext. Ballungen von kurzen Sätzen malen die
Bilderfolge eines gestörten Verhältnisses Mensch - Umwelt. Obwohl die
Abneigung des sich selbst Suchenden zu seiner geistig verstümmelten
Umgebung im Fortschreiten der "Erzählung" verständlich wird,
muß es auf den Zuhörer und späteren Leser doch abstoßend wirken, wenn
die Verfremdung so weit führt, daß sie selbst die Menschengeburt als
gefühlslosen, der Mutter lästigen Vorgang darstellt: "Sie waren
fremd, doch nicht wie die Frau, aus deren Bauch er ins Dorf gefallen
war." Der von einem verlogenen, heuchlerischen System geistig und
seelisch vergewaltigte Avram sucht verzweifelt nach Möglichkeiten, um
eine endgültige Linie zwischen seinem eigenen, wirklichen Ich und der
nach außen vorgetäuschten Person zu ziehen. Der Held Herta Müllers
unternimmt nichts. Er befindet sich stets in anderen Situationen, aus
denen sich ihm neue, meist ebenso hoffnungslose Perspektiven eröffnen.
Dorf, Stadt, Flucht, Tod, eine Welt, in der Avram schließlich keine
klaren Konturen erkennen kann, sind die Bildstationen, aus denen der
Zuhörer sich selbst eine Geschichte basteln kann.
Als in
der folgenden Diskussion ein Zuhörer in der "Beschreibung des
Bahnhofs", wie er es formulierte, konkrete Bilder erkannt haben wollte, kam
Herta Müllers Replik fast abweisend: "Aber ich habe doch gar keinen
Bahnhof beschrieben." Beschreibung und Handlung werden von Herta Müller
auch weiterhin als klassische Werkzeuge der Epik abgelehnt. Bilder, oft nur
deutbar, sollen wohl Erlebtes oder Erlebbares suggerieren. Muß man nicht selbst
Künstler oder zumindest mit einer beflügelten Fantasie ausgestattet sein, um
die anvisierten Suggestionen genießen oder erleiden zu können? Durchaus
möglich, wenn man bedenkt, daß anwesende Künstler und Kulturpolitiker in
anerkennenden Worten schwelgten. Also doch Kunst.
Für den
gewerblich oder amtlich tätigen Alltagsmenschen, der in der Literatur geistige
(Ent)Spannung, Information oder auch Unterhaltung sucht, bleibt Herta
Müllers Prosa bestimmt ein Stiefkind. Die geringe Zahl der Zuhörer (15)
wird wohl darauf zurückzuführen sein, denn an Bekanntmachungen dieser
Veranstaltung durch Presse und Rundfunk fehlte es nicht. Und immerhin ist Herta
Müller Trägerin des Marieluise-Fleißer-Preises der Stadt Ingolstadt
(über 100.000 Einwohner).
Anton
Potche
aus DER
DONAUSCHWABE, Aalen, 14. April 1991
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