Das
Wesentliche eines Namens
Was ist
ein Wendehals? Vor einem Jahr hätte die Mehrheit von uns noch mit einem
unwissenden Achselruck auf diese Überrumpelungsfrage reagiert. Man muß schon
ein Naturfan oder gar Ornithologe sein, um auf Anhieb darauf zu antworten. Das
ist auch keineswegs verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die Vögel, die ihre
Köpfe samt Schnabel um 180° drehen können, ja nicht so zahlreich wie die
Spatzen durch die Gegend fliegen.
In einem
Vogellexikon ist unter anderem auch folgendes über den Wendehals zu lesen:
"Etwas über Sperlingsgröße; GL 16,5 cm, Gewicht 30 - 39 g.
Höhlenbrüter. Spechtartig im Verhalten und im Körperbau, so mit Kletterfuß
und Leimrutenzunge ausgestattet, aber ohne Stützschwanz und Meißelschnabel.
Gefieder weich, eulenartig, rindenfarbig mit Wellenzeichnung (Schutzmuster).
Unauffällige, nirgendwo ausgesprochen häufige Vögel. Eine Gattung mit zwei
Arten: Braunkehl-Wendehals (Jynx ruficollis) in Afrika und Europäischer
Wendehals (Jynx torquilla) in Europa und Asien."
Ein
eigentümliches Kopfpendeln, das als Abschreck- und Balzbewegung dient, hat
diesem Vogel zu seinem volkstümlichen Namen verholfen. Der Vogelforscher v.
Lucas beschreibt dieses Verhalten wie folgt: "Er breitet den Schwanz aus,
reckt den Hals in die Höhe, sträubt die Kopffedern und führt dann mit Hals
und Kopf eigentümliche Verrenkungen aus, indem er den Hals einzieht und
vorschnellt oder seitlich hin und her dreht." Dabei zischt der Vogel
vernehmlich. Das erhöht die "schlangenartige" Wirkung dieses Gebarens
erheblich. Bei der Nahrungssuche beutet der Wendehals erst eine Fundstelle -
etwa ein Ameisennest - gründlich aus, ehe er zur nächsten fliegt. Mit seiner
Leimrutenzunge ist er hervorragend zum Ameisenfang befähigt... In letzter Zeit
nimmt der Bestand der Wendehälse bei uns ab. Nach den Angaben von H. Menzel
erleidet die Art in den Durchzugsgebieten Verluste durch Abschuß.
Der Wendehals
wurde, wie viele seiner Vogelgenossen, in den letzten Jahren tatsächlich immer
seltener, und daß er in diesem nicht gerade vogelfreundlichen
Jahrhundertausklang auch noch zu kaum überbietbarem Ruhm gelangen würde, ließ
sich der optimistischste Vogelfreund wohl kaum erträumen. Natürlich hat der
alles Leben auf diesem Planeten beherrschende Mensch ihm zu dieser Ehre
verholfen.
Die menschliche
Gesellschaft zeugt durch ihre Dialektik immer neue Menschenspezies. Diese werden
ihren äußerlichen und charakterlichen Erscheinungen gemäß getauft. Weil des
Menschen Naturbekenntnis gerade eine lobenswerte Renaissance erlebt, lag bei der
Geburt der jüngsten Menschenart nichts näher auf der Hand, als ihr einen Namen
aus der strapazierten und viel bedauerten Umwelt zu geben. Menschen-Wendehals
heißt die gesellschaftliche Mißgeburt, die der Zufall in der Sterbestunde des
Sozialismus noch in die Welt gesetzt hat.
Der
Menschen-Wendehals kann zwar seinen Kopf mit Schnabel nicht um 180° drehen; er
würde sich dabei das Genick brechen, was ja auch kein großes Malheur wäre; um
so schneller kann er aber seine Gesinnung mit Schnabel drehen. Ob er dabei
anderen Menschen großen Schaden zufügen kann, ist eher unwahrscheinlich. Als
besonders gefährlich muß man ihn also nicht unbedingt einstufen. Die
spektakulären Gesinnungswendungen dienen vorwiegend parasitären Zwecken oder
sie sind ein Auswurf seiner Feigheit. Dieser ungefiederte Wendehals hat sich
mittlerweile über ganz Europa ausgebreitet, und wie jedem Kleinkind schenkt man
auch ihm die gebührende Aufmerksamkeit.
Wenn wir unser
gestriges Leben nur im Schnellauf Revue passieren lassen, so werden wir ebenso
schnell auch dem einen oder anderen Menschen-Wendehals begegnen, denn der ist
nun mal überall dort, wo die Geschichte ackert. Wir müssen unseren alten
Bekannten ja nicht unbedingt öffentlich bloßstellen oder gar richten. Diese
billige Genugtuung können wir uns ruhig sparen. Dem Zeitgeist gemäß sollten
wir ihn aber doch entsprechend beachten und ihm sagen, daß wir ihn kennen.
Aus dieser Perspektive
betrachtet, kann Kind-Wendehals getrost weiterflattern. Als Erwachsener wird er
bestimmt nicht mehr beachtet. Und es wird ihm auch nicht besser gehen als seinem
aussterbenden, befiederten Namensvetter.
Anton Potche
aus BANATER POST, München,
10. Dezember 1990
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