Freitag, 17. August 2012

Polen gefordert


Zu "Unter der Lupe" in "Der Donauschwabe" vom 19 August:
Der Würfel ist gefallen. Die deutsch-polnische Grenze ist endlich endgültig. Es gibt nach der Geburt dieses politischen Faktums (21. Juni 1990) weder neue Nutznießer noch neue Verlierer. Was bleibt, ist der Schmerz der Heimatvertriebenen der ersten Generation. Ihre Heimat ist als geographische Variante verschwunden und mit ihrem Gleiten ins Reich der Geschichte wird wohl der größte Widerspruch im Ringen um das Hoheitsrecht für Pommern und Schlesien aus dem Bewußtsein verdrängt; insofern er überhaupt als solcher wahrgenommen wurde.
In der Charta der deutschen Heimatvertriebenen heißt es beschwörend: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat." Im selben Dokument der Vergebung und Versöhnung heißt es aber auch unmißverständlich: "Den Menschen von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird." Ein Recht auf Heimat beinhaltet natürlich auch Territoriumsansprüche, die sich wiederum als kaum überwindbare Barriere eines Versöhnungsprozesses entpuppen müssen.
Die Charta der Heimatvertriebenen wurde 40 Jahre alt. Mit jedem verstrichenen Jahr verlor der in ihr angedeutete, aber nicht klar formulierte Territoriumsanspruch ein Stückchen seiner Berechtigung. Man sucht heute mehr Versöhnung mit einer Generation Polen, für die das Land östlich von Oder und Neiße selbstverständliche Heimat, in der sie geboren wurden, ist, und weniger mit einstigen, in die Jahre gekommenen Gegnern, die nach dem Krieg in einem neuen (polnischen) Staatsgebiet eine eher fragwürdige Heimat fanden. Andererseits ist die zweite und dritte Generation der Vertriebenen wohl kaum en masse dazu bereit, ein neues Leben in der Heimat ihrer Väter und Großväter zu beginnen. Durch diese Entwicklung hat sich der Territoriumsanspruch relativiert und der Antagonismus Anspruch auf Heimat - Versöhnung mit den neuen Heimatbesitzern wird entschärft. Um diese Einsicht zu erlangen, mußten nicht nur die Vertriebenen einen langwierigen Umdenkprozess bewältigen. Alle Regierungen und fast alle Parteien der Bundesrepublik mußten sich dauernd, oft schmerzlichen, Gewissensprüfungen unterziehen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und Verzichtserklärungen abgeben zu können.
Wie schwer es ist, Heimat, selbst zum Zweck des immer Vorrang genießenden Friedens, aufzugeben, klingt aus den Worten des Bundeskanzlers bei den Feierlichkeiten zum 40jährigen Jubiläum der Charta: "Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer angestammten Heimat war ein großes Unrecht. Es gab dafür keine Rechtfertigung, weder moralisch noch rechtlich. Niemand kann von uns erwarten, daß wir Jahrzehnte danach erklären, die Vertreibung sei rechtmäßig  gewesen." Selbst Herbert Czaja, der Präsident des Bundes der Vertriebenen, ließ, trotz seines jahrzehntelangen politischen Engagements für die Wiedererlangung der verlorenen Heimat, moderate Töne erklingen, die Verständnis für die Politik Helmut Kohls signalisieren: "Sie (Kohl) treiben die staatliche Vereinigung von zwei Teilen Deutschlands kräftig vorwärts. Sie drängen zum Zueinanderrücken der Staaten in Europa und genießen großes Ansehen im Ausland. Auch wenn wir gegen ein ostdeutsches 'Sonderopfer' für Deutschland angehen, wäre es falsch, dies nicht dankbar anzuerkennen. Wir beharren jedoch, bei allem berechtigtem Drängen der Mitteldeutschen, auf sorgfältigem Verhandeln des gesamtdeutschen Souveräns über unsere ostdeutsche Zukunft. Wir achten dabei auch auf Ihre Zusagen, die ostdeutschen Individual- und Gruppenrechte bei den bevorstehenden Verhandlungen hart zu vertreten ..."
Daß hier Herbert Czaja das Schicksal der in Polen verbliebenen Deutschen im Auge hatte, ist klar zu erkennen. In diesem Problem ist eindeutig die polnische Regierung gefordert. Das Minderheitenrecht der Deutschen muß endlich im Alltag der Menschen erkennbar werden. Nur so kann die zukunftsorientierte Botschaft, die die Charta der Versöhnung und des Friedens verkündet, ins nächste Jahrtausend wirken.
Mark Jahr 

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 16. September 1990

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