Dienstag, 28. August 2012

An die Freude


Operation gelungen - Patient tot. Ein Staat wurde zu Grabe getragen (gefeiert) und das merkwürdigste Begräbnis der Menschengeschichte wurde zu einem der größten Medienspektakel der Neuzeit. Der Totenschmaus begann lange bevor  die Glocken den Untergang besiegelt und den Neuanfang eingeläutet hatten. Tränen waren nicht gefragt. Die waren schon Monate vorher vergossen worden, und auch sie waren damals kein Ausdruck der Trauer, sondern ein Opfer des Dankes "an die Freude".
Natürlich wäre es höchst unanständig, sich angesichts des Todes zu freuen. Das taten die Deutschen am 3. Oktober 1990 auch nicht. Ihre eher verhaltene Freude galt ausschließlich der dem Tode der DDR folgenden Vereinigung. Die Deutschen-Ost waren zu sehr mit ihren Alltagssorgen belastet und den Deutschen-West saß die Angst um die von Schwarzmachern an die Wand gemalten Opfergänge für die Einheit im Nacken, um uneingeschränkte Freudengefühle dominieren zu lassen.
Der goldene Mittelweg zwischen Trauer und Freude war ein festliches Gleiten in eine neue Zeit. Sekt, Bier, Musik und Feuerwerke gehörten nun mal zu diesem Totenschmaus-Geburtstagsfeier-Staatsakt.
Was den ersten "Tag der Deutschen Einheit" aber am nachhaltigsten geprägt hat, war die Atmosphäre in den mit Blumen geschmückten Festhallen und Konzertsälen Deutschlands. Man war sich der Einmaligkeit dieses geschichtlichen Ereignisses jederzeit bewußt. Das Gefühl, aus der Verdammung der Geschichte zu neuem Leben auferstanden zu sein, hat den vorangegangenen Tod eines menschenunwürdigen Staatengebildes zu Recht sehr schnell aus dem Gedächtnis der Menschen verdrängt, obzwar erst dieser Tod die Auferstehung ermöglicht hat.
Nie zuvor ist Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie so oft auf deutschem Boden erklungen wie an diesem Tag. Und das mit Recht, denn nie zuvor ist ein Staat von der Landkarte verschwunden, ohne daß Menschen dabei ihre Heimat verloren haben. Beim Verschwinden der DDR haben viele Menschen in Ost und West ein neues Sicherheitsgefühl vermittelt bekommen. Erst jetzt sind die Folgen des Kalten Krieges aus der Welt geschafft und, damit dem Bangen um die angestammte Heimat jede Grundlage entzogen wird, mahnt man den verbindenden Charakter, den Grenzen auch haben können, an. Obzwar geänderte Grenzinterpretationen nicht über auch weiterhin existierende Unterschiede im Lebensstandard der Menschen in Europa hinwegtäuschen können, sind sie eine Gewährleistung dafür, daß Gegner von gestern Partner von morgen werden können.
Man denkt an solchen Tagen, die man als Meilensteine der Geschichte empfindet, an viele Dinge, die oft zu überraschenden Assoziationen führen. Da ist doch wieder dieses Bild der Großväter, die den Sonntagnachmittag beim Kartenspielen verbrachten. Da wurde doch nicht nur gespielt, sondern auch politisiert. Erinnern wir uns mal: "Un ich son eich, des kummt doch soweit." - "Do misse sich awwer es erscht die Russe un die Amerikoner verstehn." - "... Mer werre des nemmi erlewe."
Deutschland, einig Vaterland, war schon vor zwanzig und dreißig Jahren ein selbstverständlicher Gesprächsstoff an den Kartentischen der banat-schwäbischen Dörfer. Das ihnen eigene, als angeboren empfundene Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Volk ließ diese Männer regen Anteil am schmerzhaften Schicksal Deutschlands nehmen.
Die meisten von ihnen haben ein in Freiheit geeintes Deutschland nicht mehr erlebt. Die Gesinnung unserer im Banat ruhenden Väter und Großväter rechtfertigt aber den schnelleren Rhythmus unserer Herzschläge, den wir fühlten, als es am ersten Tag der Deutschen Einheit durch die Lüfte hallte: "Freude, schöner Götterfunken, / Tochter aus Elysium, / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligtum.  //  Deine Zauber binden wieder, / Was die Mode streng geteilt, / Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weint."
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 20. Oktober 1990

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