Donnerstag, 19. Juli 2012

Fragen über Fragen


Die Menschen im Saarland haben in diesem Jahrhundert in zwei Volksabstimmungen ihren geschichtlich und menschlich berechtigten Willen zum Ausdruck gebracht, ihr Schicksal mit dem des gesamten deutschen Volkes zu verschmelzen. 90,76 Prozent der zur Wahl gegangenen Saarländer haben sich 1935 per Stimmzettel zur Rückkehr ins Deutsche Reich entschieden. Zwanzig Jahre später votierten die Menschen dieses nur 2569 Quadratkilometer großen, südlich des Hundsrück gelegenen Ländchens für eine Wiedereingliederung in die Bundesrepublik Deutschland.
In einer Volksabstimmung (1955) lehnten 78 Prozent der Wahlbeteiligten das von Konrad Adenauer und Pierre Mendès-France (1954/55 Ministerpräsident Frankreichs) ausgehandelte Saarstatut, das einer Europäisierung des Saarlandes in der Westeuropäischen Union gleichkam, ab. Zweimal im geschichtlich winzigen Zeitraum eines halben Jahrhunderts wurden die Saarländer willkürlich aus der deutschen Einheit ausgeschlossen und jedesmal hat ihr klares Volkszugehörigkeitsbekenntnis ihnen den Weg zurück geebnet.
Weitere 45 Jahre gingen ins Land. Die Menschen im Saarland haben mit aufgebaut und freuen sich mit ihren deutschen Landsleuten über die größten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Errungenschaften in der Geschichte dieses Volkes. Und jetzt verwehren sie ihren deutschen Brüdern und Schwestern aus dem fernen und nahen Osten Europas die Rückkehr in das Land, das endlich Heimat für alle Deutschen werden kann.
Zu diesem schweren, aber doch zu pauschal klingenden Vorwurf könnte man leicht kommen, würde man übersehen, daß unqualifizierte Äußerungen führender Politiker bei weitem nicht die Meinung ihrer Mitbürger und auch Wähler darstellen müssen. Es wird wohl kaum einem normalen Menschen verständlich sein, daß gerade die Menschen im Saarland den Staatsvertrag zur Deutschen Einheit ablehnen. Im Gegenteil: Ihr geschichtlicher Leidensweg legitimiert sie dazu, den deutschen Einigungsprozeß und das Aussiedlerphänomen besser als jeder andere Bürger dieses Landes zu verstehen.
Um so skandalöser erscheinen vor diesem Hintergrund die abwertenden Äußerungen des saarländischen Regierungschefs zur Aussiedlerproblematik und zur Deutschen Einheit. Man kann es zwar als Ironie des Schicksals betrachten, daß gerade das Saarland seine Zustimmung zum Staatsvertrag im Bundesrat verweigerte, man muß sich aber auch nach dem Geschichtsbewußtsein der Abgeordneten, die ihre Nein-Stimmen erhoben, fragen. Oder sind diese von den Selbstzwecktheorien eines Oskar Lafontaine so eingenommen, daß sie nicht mehr fähig sind, sich eine eigene Meinung zu bilden? Oder könnte ihnen vielleicht unter Lafontaines bewehrter Führung sogar die, für eine Demokratie lebenswichtige, Zivilcourage abhanden gekommen sein?
Fragen über Fragen; Fragen zum Rückzug der Betroffenen aus der Politik wären hier in bester Gesellschaft.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 29. Juli 1990

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