Dienstag, 14. Mai 2019

Immer wieder Herta Müller

Der Versuch einer Annäherung ohne Rezensionsabsichten
Wie in allen Bereichen unseres Gesellschaftslebens werden auch in der Verlagsbranche kontinuierliche Verbesserungsprozesse als Existenzgrundlage wahrgenommen. Besonders auf Buchmessen und an Jubiläen sind Einfallsreichtum zum Ködern von Kunden gefragt. Ein für die deutsche Verlagslandschaft wichtiger Jubeltag fiel in den verflossenen Sommer: 50 Jahre Rowohlt Rotations Romane. Prompt tauchten in den Buchhandlungen Tische beladen mit Taschenbüchern im sogenannten Jubiläumsformat (9 x 14,5 cm) von 50 Autoren auf. Große Namen: Paul Auster, Wolfgang Borchert, Albert Camus, Vaclav Havel, Klaus Mann, Jean-Paul Sartre, Tilman Spengler, Kurt Tucholsky und viele andere.
Unser donauschwäbischer Bücherwurm überfliegt gelassen, nur so zum Zeitvertreib die Bücherstapel und siehe da, er wird fündig. Der Griff nach dem Buch ist spontan, selbstverständlich: Herta Müller - Drückender Tango, Erzählungen, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1996, 200-ISBN 3 499 22080 6.
Dann liest er den Empfehlungstext auf dem Buchdeckel: „Was Herta Müller in die Reihe der besten deutschsprachigen Autorinnen versetzt, ist nicht allein ihre Fähigkeit, das grauenvolle Landleben der Banatschwaben zu erfassen – entscheidend ist die poetische Qualität der Herta Müller.“ (DER SPIEGEL)
Unmut. Was war an diesem Landleben der Banater Schwaben, abgesehen von den politisch und wirtschaftlich schwierigen Existenzbedingungen, so „grauenvoll“? Neugierde. Dann der Blick auf den Preis: DM 2,-. Spare hin, spare her. Zwaa Mark sin nemol forr e Herta Müller-Buch vill.
Zuhause angekommen, begibt der Donauschwabe aus dem Banat sich auf die Suche nach dem „grauenvollen Landleben“, in der Hoffnung, als Besänftigung seiner Verdrossenheit wenigstens in den Genuß von Herta Müllers „poetischer Qualität" zu kommen. Er liest.
Faule Birnen: „Die Decke überschlägt sich in langen Stößen. Die Tante stöhnt. Der Vater keucht. Das Bett zuckt in kurzen Stößen aus dem Holz. […] Hinter der Zimmerwand ächzt das Bett in kurzen Stößen. Die Mutter stöhnt. Der Vater keucht. Die Ebene ist vollgehängt mit schwarzen Betten und mit faulen Birnen.“
Wirklich grauenvoll. Wut. Aber so ist nun mal das Leben. Und nicht nur dort im Banat.
Drückender Tango: „Großmutter hängt ihren rasselnden Kranz aus weißen Steinchen an den Grabstein über Vaters Gesicht. Wo Vaters tiefe Augen sind, ist jetzt das rotentfleischte Herz der lächelnden Maria. Wo Vaters harte Lippen sind, ist jetzt die ungarische Schrift der Monarchie.“
Poetische Qualität. Allerheiligen bedrückt Kindergemüter und leitet ihre Phantasie in gespenstische Bahnen. Versöhnung.
Dorfchronik: „Der Bürgermeister, der im Dorf Richter genannt wird, hält im Gemeindehaus seine Sitzungen. Unter den Anwesenden gibt es Raucher, die abwesend rauchen, Nichtraucher, die nicht rauchen und schlafen, Alkoholiker, die im Dorf Säufer genannt werden und die Flaschen unter den Stühlen stehen haben, sowie Nichtalkoholiker und Nichtraucher, die schwachsinnig sind, was im Dorf anständig genannt wird, die so tun, als würden sie zuhören, die aber an etwas ganz anderes denken, falls es ihnen überhaupt gelingt, zu denken.“
Toll. Literarische Ethnographie mit spitzer Feder geschrieben und gegeißelte Politikvorgaukelei. Einverstanden.
Die große schwarze Achse: „Es stank nach faulem Fleisch. Meine Tante hob ihre Röcke. Ein heller Fleck stand unter der schwarzen Bluse. Der Fleck war breit, und gleicher war er als zwei Monde. Meine Tante wischte sich mit einem Grasbüschel den Hintern. Mein Onkel ging auf dem Bahndamm auf und ab. Er blieb kurz stehen und: ‚Menschenskind‘, rief er, ‚das stinkt ja wie die Pest.‘ Der Himmel roch nach Kot.“
Weltuntergangsstimmung. War diese Diasporagemeinschaft so tief gesunken, daß in Kinderaugen nur noch das Unmoralische haften blieb? Wer sagt denn, daß es verwerflich ist, wenn Leni von Ionel ein Kind bekommt? Wäre der kleine Franz auch vaterlos geblieben, wenn die einen die anderen nicht so verachtet hätten? Quälende Fragen. Verfluchter Text. Schnell weiter.
Drosselnacht: „Ich habe nichts gesehen von dieser Welt, darum versteh ich nichts. Nur denk ich so für mich, wenn ich das Laub über dem Hügel seh, daß unser Dorf so klein geblieben ist im großen Krug. Und keiner suchts und keiner findet es. Und für die Welt wars nur ein Angebot im Krieg. Die Wolken schwimmen jeden Morgen durch das Laub. Sie sind ein Blutband überm Hügel. Wer glaubt mir, daß es an der Drossel liegt, daß Martin starb.“
Beeindruckend. Ein Klagelied in Prosa gegen den Krieg. Davon gibt es zu wenige in allen Sprachen dieser Erde. Nachdenklichkeit.
Viele Räume sind unter der Haut: „Ein Soldat steht unterm Baum. Er hält die Mütze in der Hand. Er würgt. Hinter ihm steht ein Soldat. Der lacht. Er tritt an den Stamm. Fick deine Mutter, schreit er. Die Mütze fällt auf den Boden. Der Soldat erbricht an den Stamm.“
Ablehnung. Das ist nicht unsere Sprache. Diese Ausdrücke gab es nie bei uns. Sie klingen nur rumänisch. Dieses Bild ist verfälscht. Das Fremde aber hat die Farben schon gemischt.
Unser Leser schließt das handliche Büchlein. Er kennt diese Erzählungen. Sie stehen in seinem Bücherschrank mit anderen Herta-Müller-Büchern. Er wäre kein Banater Schwabe, trüge er nicht seit Jahren einen ohnmächtigen Groll im Herzen gegen diese Bücher. Jetzt hat er einiges aus ihren Innereien wieder gelesen und ist sich plötzlich nicht mehr so sicher. Da ist so viel, was am Ansehen kratzt.
Dann klappt der nachdenkliche Leser die Augenlider runter und blickt in die Gegenwart. Er sieht Machtkämpfe um des Kaisers Bart. Allerorts. Unten und oben. Und er denkt sich, Mensch ist Mensch, und es sind eben seine Schwächen – auch wenn sie nur in einzelnen Individuen zum Ausbruch kommen -, die den Stoff liefern, aus dem Literaturpreischancen geschmiedet sind.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 9. Februar 1997

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