Dienstag, 14. Juli 2015

Im Schneckentempo Richtung Demokratie

Rumäniens Schwierigkeiten mit der parlamentarischen Wirklichkeit
Man stelle sich vor, Abgeordnete von CSU, FDP, SPD u. a. wechseln von heute auf morgen die Fronten und werden CDU-Mitglieder. Schließlich hat diese Partei ja in Bonn / Berlin die meisten lukrativen Regierungsjobs (z. B. Botschafter) zu vergeben. Für jeden außerhalb der CDU aktiven Politiker mag das wohl ein verlockender Gedanke sein, und für die CDU selbst darf man ihn wohl auch als Wunschgedanken apostrophieren, würden diese Vorfälle doch sowohl den Koalitionspartner als auch die Opposition schwächen. In einer stabilen Demokratie kommen solche Frontenwechsel nur sehr selten vor, und wenn schon mal, dann versinken die Überläufer schnell in der Bedeutungslosigkeit. Diese zumindest in der deutschen Politik konstatierbaren ungeschriebenen Spielregeln deuten auf eine vorhandene ausgeprägte politische Moral hin. Ab und zu auftretende Selbstbedienungsbedürfnisse bei Politikern mit ausprägten Zulangqualitäten sind Seltenheiten, die die sprichwörtliche Regel von der Ausnahme auch bestätigen.
Anders verhält es sich aber in einer im Werden bestehenden Demokratie. Der wohl labilste Demokratisierungsprozeß Europas ist zur Zeit in Rumänien zu beobachten. Von den drei Säulen einer lebensfähigen Demokratie - Politik, Wirtschaft und Pressefreiheit - steht in dem südeuropäischen Land bloß die Letzte ohne verhängnisvolle Risse da. Das führt im politischen Leben zu bei uns kaum nachvollziehbaren Machtkampfmethoden. Die mit der Unterstützung nationalistischer und altkommunistischer Parteien (PUNR, PRM, PSM) regierende PDSR (Partidul Democraţiei Socialiste din România -Partei der Sozialen Demokratie aus Rumänien) hat das Sommerloch mit Abwerbungsaktivitäten ausgefüllt. Dabei hat man sich nicht nur auf Parlamentarier beschränkt - der Senator Victor Neagu wechselte von der PDAR (Partidul Democrat Agrar Român - Demokratische Rumänische Agrarpartei) zur PDSR -, sondern war auch im kommunalen und regionalen Bereich tätig. Im Kreis Argeş hat gleich eine ganze Gruppe von führenden PD-Mitgliedern (Partidul Democrat - Demokratische Partei, Partei des im September 1991 gestürzten Premierministers Petre Roman) ihre Partei verlassen. Die Zeitung ROMÂNIA LIBERĂ schreibt von Übertrittsangeboten der PDSR (einstige FDSN) und von wahrscheinlichem Wechsel. Auch im Munizipium Bukarest ist ein namhafter Überläufer von der PDAR zur PDSR zu verzeichnen. Die von der Regierungspartei ausgelegten Köder liegen sowohl in eigenen Parteifunktionen als auch in hohen Justiz- und Staatsämtern. Die einstigen PD- und heutigen PDSR-Mitglieder Caius Dragomir und Eugen Dijmărescu sind z. B. rumänische Botschafter.
Selbst nach Führern unpolitischer Organisationen - allerdings muß dieser Begriff auf Rumänien bezogen noch mit Einschränkungen benutzt werden - strecken die Potentaten der Regierungspartei ihre Fühler aus. Der Präsident der Gewerkschaftsföderation Frăţia, Miron Mitrea, scheint ihr erstes Opfer aus dem Bereich der organisierten Arbeitnehmerschaft zu sein. Hier wurde der Versuch der Regierung, die Gewerkschaft zum Transmissionsriemen eigener zentralistischer Wirtschaftsmethoden und auch politischer Entscheidungen zu degradieren, erstmals seit den Kumpelaufmärschen (1991) wieder offenbar. Der gute Mann will Vizepräsident der PDSR werden. Den Gewerkschaften in Rumänien droht ein erneutes Mauerblümchendasein wie zu Ceauşescus Zeiten.
Ob man das Ernennen von zwei PUNR-Mitgliedern zu Ministern (18. August 1994) noch als Absorbierungsvorgang der Regierungspartei nennen darf oder ob man diesen ungeheuerlichen Vorgang eher als Erpressung der als extremistisch, nationalistisch und antieuropäisch eingestuften PUNR (Partidul Uniunii Naţionale a Românilor - Partei der Nationalen Union der Rumänen) werten soll, wird schon die nahe Zukunft zeigen. Ins Reich der politischen Absurdität - nach westeuropäischen Maßstäben - rückt allerdings die nach der Paukenschlagumbildung der rumänischen Regierung von den Führern der PUNR verbreitete Nachricht, daß noch zwei weitere, schon seit längerem in Amt und Würde stehende Minister "Sympathisanten" der PUNR wären, dies bloß bisher nicht publik gemacht hätten.
Trotz dieser unerfreulichen Entwicklung treiben die nationalistischen Extravaganzen des PUNR-Vorsitzenden Gheorghe Funar auch Blüten, die zu wahrhaft amüsant-lächerlichen Situationen - der Rumäne würde sagen "situaţii caraghioase" - führen. In seinem krankhaften Drang, das Primärexistenzrecht der Rumänen in Siebenbürgen zu dokumentieren, läßt er jetzt als Klausenburger Bürgermeister das Zentrum dieser geschichtsträchtigen Stadt aufwühlen, um dort vermutete Ruinen aus der Daker-Römer-Zeit freizulegen. Was die Archäologen allerdings als Erstes zu Tage förderten, waren zwei wertvolle österreichische Pfeifen aus der Habsburgerzeit. Ob Herr Funar wohl Pfeifenraucher ist?
Die Moral vieler politischer Würdenträger Rumäniens ist mehr als zweifelhaft. Die Opportunisten beherrschen die politische Szene. Das mag wohl eine der Ursachen für das Schneckentempo des Demokratisierungsprozesses in diesem Land sein.                                                                                                                                                                                                          Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 18. September 1994

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