Donnerstag, 10. Oktober 2013

Der Meister hat abgedankt

Die Akkorde der Pastoralmesse von Karl Kempter verleihen dem Kirchenschiff einen Hauch von räumlicher Unendlichkeit und (zeitlicher) Ewigkeit. Der Priester schweigt. Seine Predigt aber wirkt in den Herzen und Gehirnen der Menschen. Wenn auch die Zusammenhänge seiner Sätze sich unter dem Einfluß der Chor-Orchester-Harmonien verflüchtigen, so bleiben doch einige Worte haften und die Menschen nehmen sie mit in die Weihnachtszeit: Kroatien, Georgien, Seuchen, Hunger, Armut, Flucht, Asyl, Aussiedler, Sinn für das Wesentliche.
Wir haben uns in den letzten Jahren an diese Art der Botschaften und Mahnungen gewöhnt. Das Medienzeitalter hat den Menschen aus seiner geographischen Enge in das Weltgeschehen katapultiert. Besonders in der Advents- und Weihnachtszeit ist der Bürger des christlichen Abendlandes für die Mißgeschicke unserer Erde sensibilisiert. Unsere Weihnachtsfreuden werden von unserem Wissen über anderwärtiges Leid getrübt. Man durfte sich auch im letzten Dezember die Frage stellen: Welche Gräueltaten wird uns die Flimmerkiste an diesen Feiertagen bescheren?
Neben dem verurteilenswerten Kriegsgeschehen mit seinen vielen unschuldigen Opfern gab es dann auch ein zwar voraussehbares, aber mit noch nicht absehbaren Folgen behaftetes, politisches Erdbeben, das das Auseinanderbersten der Sowjetunion besiegelt hat. Lag da nicht so etwas wie Melancholie über der Heiligen-Abend-Stimmung, als die Nachrichtensprecher verkündeten, daß Michail Sergejewitsch Gorbatschow Abschied von seinen engsten Mitarbeitern genommen hat? Er habe Saft und Gebäck reichen lassen und ihnen Glück gewünscht.
Am 1. Weihnachtstag 1991 sprach Gorbatschow zu den Völkern des Geschichte gewordenen Sowjetreiches: "Aufgrund der entstandenen Situation durch die Bildung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten beende ich meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR. ... Zum letzten Mal spreche ich zu Ihnen als Präsident. ... Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute."
Schlichte, einfache Worte, die eines der größten Ereignisse der Geschichte beenden: das friedliche Abschaffen eines menschenunwürdigen Gesellschaftssystems, des Kommunismus, in Europa und weiten Teilen Asiens.
Natürlich hat Gorbatschow auch Fehler in seiner fast 7jährigen Amtszeit gemacht. Er hat als Mensch agiert und war dementsprechend nicht fehlerfrei. Das Resultat seiner Politik ist aber eine unverkennbare Umstrukturierung der gesellschaftlichen Beziehungen. Jetzt kommt es einzig und allein darauf an, was die neuen Machtinhaber Ost-Südost-Europas und Asiens aus dem Werk Gorbatschows machen. Was ihre Selbstständigkeitsbestrebungen angeht, haben sie ihren Lehrmeister in Demokratie bereits übertroffen.
Es wäre schön, wenn Worte wie Kroatien, Georgien, Seuchen, Hunger, Armut, Flucht, Asyl, Aussiedler aus den Predigten der folgenden Weihnachtszeiten verschwinden könnten. Nur so wird der Sinn für das Wesentliche dieses "freudigen" Festes seine Geltung erlangen.
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 20. Januar 1992

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