Dienstag, 10. September 2013

Das Dorf im Zentrum der Einsamkeit

Im Verlag "Das Wunderhorn" ist ein Buch mit zwei Erzählungen von Johann Lippet erschienen.
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Die Falten im Gesicht. Wovon kommen sie? Bestimmt nicht von einem sorglosen, glücklichen Alltag. Horst Bachner, ein Mittdreißiger, verlebt einen Tag völlig nutzlos. Was er unternimmt, ist meist absurd, und doch offenbart sich dem Leser ein ganzes, zwar junges, aber sehr intensiv gelebtes Leben, in dem wiederum für Sinnlosigkeiten kaum Freiräume existieren.
Diese Erzählung, in zwei Zeiten aufgebaut, macht den Blick für eine Dorf- und Stadtwelt frei, deren Charakter ausschließlich vom täglichen Überlebenskampf der Menschen geprägt war und ist. Das spezifische Dorfleben mit seinem bäuerlichen Romantikhauch, der selbst von den Härten des sozialistisch geregelten Daseins nie ganz verwischt werden konnte, ist nun doch Vergangenheit geworden. Das ihm gefolgte Leben in einer Blockwohnung der Stadt ist düster und deprimierend.
Horst Bachner existiert in der Gegenwart und lebt von der Vergangenheit. Dabei sind die Erinnerungen meist klarer konturiert als die oft undurchsichtigen Handlungen des bärtigen Intellektuellen in seiner räumlichen Enge und zeitlichen Abhängigkeit. Sein Blick geht immer zur Uhr. Dieses ständige Nachlaufspiel zwischen War und Sein erzeugt eine unbewußte Erwartung des Lesers auf den folgenden Zeitabschnitt. Während das Präsens zeitlich klar durch Sekunden, Minuten, und Stunden in seinen Abläufen überschaubar und, wieder nur zeitlich betrachtet, sogar vorausschaubar ist, stellen sich die Erinnerungen in unchronologischer Folge ein, was der Erzählung eine knisternde Spannung verleiht. Diese wird gegen Mitternacht im Accelerando gesteigert und ermöglicht ein überraschendes Finale, das - so düster es auf den ersten Blick auch scheinen mag - durch seine Skurrilität einem unbelasteten Leser (es hat ja zum Glück nicht jeder alle idiotischen Schikanen des Kommunismus erleben müssen) sogar ein - natürlich verständnisloses - Lächeln abringen kann.
Johann Lippet hat nicht nur eine menschliche Figur, die in ihrer Einsamkeit einen Extremfall (keinen Einzelfall) darstellt, kreiert. Er hat die Aussichtslosigkeit einer ganzen, als Minderheit im kommunistischen Rumänien herangewachsenen Generationen in eine literarische Gestalt konzentriert. Wer selbst in diesen Breitenkreisen gelebt hat, wird sich oft unschwer in dieser Erzählung wiederfinden, was durchaus die Vermutung zuläßt, daß Johann Lippet auch viel Autobiographisches in die Ein-Mann-Geschichte eingebracht haben könnte.
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Anton Baumgartner, der Mittelpunkt der Welt ist eine flache Geschichte, flach wie das Land, in dem das Dorf W. liegt. "Feld so weit das Auge reicht, bis zum Horizont." Ein Mann und seine Frau, Anton und Maria Baumgartner, leben in diesem Dorf. In ihrem leidenschaftslosen, aber ehrlichen Neben- und Miteinander, in dem kleine Ruppigkeiten eher als willkommene Abwechslungen des Alltagstrotts empfunden werden, widerspiegelt sich das Leben des ganzen Dorfes. Werden, Sein, Kampf, Sieg, Niederlage, Freude, Leid, Tod, und schließlich das angedeutete Ende der ganzen Dorfgemeinschaft liegen greifbar nahe beieinander. Niemand kann den Zerfall aufhalten. Die von außen wirkenden zerstörerischen Faktoren werden als Schicksal hingenommen. Das Aufbäumen wirkt nur symbolhaft und ist jeweils von kurzer Dauer. Es geht immer gleich weiter, das Leben inmitten der Abgeschiedenheit. Die Weltgeschichte spielt sich irgendwo, weit weg von W., ab und erreicht das Dorf ziemlich verunstaltet. "Anton hat auch einen Schwengelbrunnen im Hof und macht sich zwei Tage vor dem 23. August 1968 an die Arbeit... Es wird Krieg kommen, weiß man seit heute morgen im Dorf. Soldaten sind einmarschiert, die Regierung ist gefallen."
Anton und Maria Baumgartner sind leibliche Verkörperungen der Einsamkeit. Man liest und denkt an Hundert Jahre Einsamkeit. Nein, hier sind es mehr als hundert Jahre. Die Erzählweise vermittelt das Gefühl, daß dieses Dorf schon immer im Zentrum der Einsamkeit lag; bloß haben seine Bewohner diese nie als Lebensbürde empfunden. Nur der Betrachter von nah oder fern nimmt sie wahr und ist desto mehr vom Lebenswille dieser Menschen angetan.
Ein Dorfleben, das sich nur an den seit Generationen im wesentlichen unveränderten Arbeits- und Ritualrhythmen orientiert, ist für viele heute unvorstellbar. Und doch hat es die vor noch zehn Jahren gegeben und gibt es mancherorts auch heute noch. Man vermißt in diesem Leben besonders die Liebe. Sie wird heute so oft in der Literatur mißbraucht, zu ordinären Sexstatements (merkwürdigerweise gelingt es denen sehr leicht, an die Öffentlichkeit zu gelangen) degradiert, mit denen ruhmsüchtige Literaten/innen angebliche Tabus brechen wollen. In dieser Erzählung scheint sie zu fehlen, die Liebe, zumindest so, wie man sie gegenwärtig in den modernistischen (nicht unbedingt auch modernen) Wohlstandsgesellschaften kennt. Sie ist trotzdem da. Sie ist allgegenwärtig und sie triumphiert im vibrierenden, für viele Leser wahrscheinlich ergreifenden Finale - wobei jeder billige Sentimentalismus außer Frage steht - förmlich auf. Der Autor führt die Liebe nicht ins Geschehen ein; er macht den Ausgang dieser Erzählung von ihrer Existenz abhängig.
Anton Baumgartner und seine Frau Maria gehören zu dem Menschenschlag, dessen Besonderheit erst auffällig wird, nachdem es ihn nicht mehr gibt. Mit dem Untergang eines Dorfes, dessen Name W. (für Wiseschdia) nicht nur am Ende des Alphabets angesiedelt ist, sondern auch für das Ende einer Diasporagemeinschaft bezeichnend ist, verändert sich eine Landschaft, und die Menschheit ist um eine lebendige Eigenart ärmer.
Bleibt nur die Hoffnung, dass es dem Wunderhorn-Verlag gelingt, diesem Buch die wohlverdiente Publizität zu verschaffen, um seine Existenz einem je größeren Leserkreis kund zu tun.
Anton Potche

Johann Lippet: Die Falten im Gesicht, Erzählungen; Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1991; 229 S., DM ca. 36,-, ISBN 3-88423-073-5.

aus BANATER POST, München, 10. Dezember 1991

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