Dienstag, 6. März 2012

Spiegelbild

     Zum Leserbrief "Ehrenrührig" (Ausgabe vom 4. 12. 1989):
      In den letzten 20 Jahren hat sich der materielle Lebensstandard in Rumänien von Tag zu Tag verschlechtert. Direkt damit verbunden war der spürbare Verfall jeglicher moralischer Werte, die ein zivilisiertes Volk auszeichnen. Wer die Szene einigermaßen kennt, weiß, daß viele prominente Geistesschaffende Rumäniens heute im Exil leben oder ihr Dasein in tristem Hausarrest verbringen. Die Konsequenz dieses Exodus konnte nur eine sein: Ein qualvolles, langsames Sterben eines bis dahin intakten, in seiner Tradition verwurzelten deutschen Volksstammes begann. Die verzweifelten Versuche einiger beherzter Laienkünstler, Traditionen zu pflegen und deutsches Kulturleben aufrechtzuerhalten, wurden vom grauenvollen Röcheln der dahinsiechenden Gemeinschaft überschattet.
      Herta Müller siedelte erst 1987 in die Bundesrepublik aus. Sie war also schon eine von den "letzten", eine von denen, "die die Hunde (hinaus)beißen", wie es im Banat so gruselig schön heißt. Sie ist ein Kind dieser vom rumänischen Conducător proklamierten "Epoche des Lichtes", die ein Volk und seine Minderheiten in absolute Finsternis gestürzt hat. Ihre Werke sind ein Spiegelbild dieser unseligen Zeit. Was sollte daran schön sein? Ein einziger literarisch schöner Satz würde den Versuch gefährden, die Ungeheuerlichkeiten, unter denen die Menschen im Banat, in Siebenbürgen und in ganz Rumänien litten und leiden, in einem Sprachbild einzufangen. Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Frust über den angeordneten Persönlichkeitsverlust, Angst, Sehnsucht, Resignation, Ekel, Haß, Wut und grenzenloses Mißtrauen sind Lebensbausteine der heutigen Bürger Rumäniens. Solche Gefühle generieren auch entartete literarische Aggressionen. Diese "Epoche des Lichtes" hat neben kriechenden Hofpoeten auch Schreibende wie Herta Müller hervorgebracht.
      Daß in einem gepflegten Beet eines ungepflegten Gartens auch mal Unkrauthalme auftauchen, ist wohl nicht vermeidbar. Herta Müller hat zu jäten versucht. Sie hat aber viel zu starkes Gift benutzt und das mit so viel Liebe und Hingabe gepflegte Beet beträchtlich beschädigt. Darum kann sich die große Mehrheit der Banater Schwaben nicht mit ihrem Werk anfreunden.
      Man sollte aber nicht darüber streiten, ob Herta Müller eine gute oder schlechte oder überhaupt eine Schriftstellerin ist. Die Literaturgeschichte wird auch in ihrem Fall ihre Schuldigkeit tun und sie dort einordnen, wo sie hingehört. Man sollte statt dessen den Ursprung ergründen, der das Entstehen dieser obskuren Phantasiebilder und obszönen Handlungen sowie ihre Wiedergabe in einer ordinären Sprache verursacht hat. Wer sich die Mühe macht, wird in ein von Stacheldraht und Maschinengewehren umgebenes Land sehen, dessen Menschen an der untersten Grenze der menschlichen Würde existieren. Inmitten dieses unsagbaren Elends windet sich ein deutscher Volksstamm in Todeskrämpfen. Es sieht viel, viel schlimmer aus, als die freie Welt und ihre Politiker in Ost und West es wahrhaben wollen oder, gemäß ihrer erreichten Zivilisationslogik, es wahrhaben können.
      Betrachtet man Herta Müllers Gesamtwerk aus seiner Entstehungsperspektive, so kann man die diesjährige Marieluise-Fleißer-Preisverleihung der Stadt Ingolstadt durchaus auch positiv betrachten.  
Anton Potche 

DONAUKURIER, Ingolstadt, 16./17. Dezember 1989

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