Dienstag, 21. März 2017

Bereitschaft zur Demokratie?

Eine Trennung aus taktischen Erwägungen
Businesswetter beim Nachrichtensender n-tv. Toll. Man kann die momentanen Wettertemperaturen aller europäischen Hauptstädte ablesen. Aller? Bukarest fehlt. Keine Temperaturangaben. Liegt Rumänien nicht in Europa? Wer der Nicht- oder nur sehr spärlichen Berücksichtigung Rumäniens in den großen deutschen Tages- und Wochenblätter gewahr wird, muß wohl denken, dass dieses Land zumindest von den politischen europäischen Gesamtstrukturen noch weit entfernt ist, obwohl der Slogan „Zurück nach Europa“ schon gleich nach dem Sturz Ceauşescus dort lauthals ausgegeben wurde.
Warum sowohl Europaparlamentarier als auch Privatinvestoren sich spürbar zurückhalten, wenn das Thema Rumänien auf den Tisch kommt, liegt augenscheinlich an dem als gescheitert bewerteten Reformprozeß, den das Land nach dem Dezember 1989 durchgemacht hat. Dieser Prozeß hat im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben Rumäniens keine demokratischen Strukturen nach westeuropäischem Muster geschaffen. Die Privatisierung kommt weiterhin nur sehr schleppend voran, ein Großteil der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze und in der Regierungskoalition sorgen Nationalisten und Altkommunisten für Dauerspektakel.
Die PDSR (Partidul Democraţiei Sociale din România – Partei der Sozialen Demokratie aus Rumänien) hat, um regieren zu können, einen Teufelspakt geschlossen, der ihren stets beteuerten Wandel vom Kommunismus zu einer demokratischen Partei in Frage stellt. Die im Januar 1995 eingegangene Koalition mit den nationalistischen Parteien PUNR (Partidul Uniunii Naţionale al Românilor – Partei der Nationalen Union der Rumänen), PRM (Partidul România Mare – Partei Großrumänien) und der neokommunistischen PSM (Partidul Socialist al Muncii – Sozialistische Partei der Arbeit) hat besonders durch die unbotmäßigen chauvinistischen Äußerungen des PRM-Vorsitzenden Corneliu Vadim Tudor dem Land ein schlechtes Image beschert.
Jetzt, im Vorfeld der in Rumänien bevorstehenden Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (1996) sucht die PDSR sich der selbst aufgebürdeten Last zu entledigen. Die Faszination der Macht scheint doch nicht alle Mittel zu rechtfertigen. Die PDSR hat am 19. Oktober ihre Zusammenarbeit mit der PRM des einstigen Hofschranzen Ceauşescus, C. V. Tudor, gekündigt. Rumort in den Gehirnen der PDSR-isten plötzlich ein Demokratiegerinsel, das jeden Nationalismus im Keim ersticken soll, oder ist alles nur Taktik? Ein kluger Schritt scheint es allenfalls zu sein, denn man versucht, gleich mehrere Fliegen auf einmal zu schlagen. Dem Ausland wird so Bereitschaft zur Demokratie signalisiert, die aufmüpfige ungarische Minderheit bekommt einen Beruhigungshappen vorgeworfen und an den Wahltagen kann die in der Gunst der Wähler noch immer führende Regierungspartei (bei einer Meinungsumfrage vom Juni 1995 führte die PDSR die Parteienliste mit 28 Prozent an) mit moralisch geputzter Weste dastehen.
Die Rumänen werden es honorieren. Sie haben anscheinend längst vergessen, daß auch die PDSR trotz allem nur eine Nachfolgepartei der PCR (Partidul Comunist Român – Rumänische Kommunistische Partei) ist und das viele ihrer jetzigen Würdenträger einst Mitarbeiter Ceauşescus waren. Besonders im Falle ihres Präsidenten Ion Iliescu scheint das Gedächtnis vieler Rumänen zu klemmen. Der Mann wird zum Teil sogar von der unabhängigen Presse des Landes ob der unqualifizierten Angriffe C. V. Tudors bedauert. Die PDSR-Oberen haben die Volksstimmung prompt genutzt und sich und den von ihnen politisch gestützten Präsidenten von dem Wadenbeißer befreit.
Rumänien hat seine politische Sensation. Noch nie war seine Demokratie so spannend. Der PDSR sei gedankt. Man kann bei diesen Ränkespielchen so schön die ökonomische und soziale Misere des Alltags vergessen. Ob das allerdings auch die ausländischen Investoren und politischen Beobachter beeindruckt, bleibt dahingestellt.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 3. Dezember 1995

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