Dienstag, 17. Januar 2017

Unter der Lupe

Fließend sind die Grenzen zwischen Opferbereitschaft und Heuchelei! "Es ist fast so, als ob die Tatsache, einmal und unvergänglich Täter gewesen zu sein, die Deutschen ewig dazu antriebe, Opfer sein zu wollen, wann immer es sich anbietet." Wie wahr! Das oft bis ins Lächerliche übertriebene Schuldgefühl der Deutschen wird hier von Ulrich Greiner (DIE ZEIT, Nr. 42, 13. Oktober 1995) nicht zum ersten Mal entlarvt. Auch die dritte Nachkriegsgeneration lechzt förmlich - natürlich so öffentlichkeitswirksam wie möglich - nach Opfergängen für das Vergehen der (vieler, aber lange nicht aller) Großväter. Dabei wurde doch schon in Hülle und Fülle von den verblendeten aber auch (oder besonders) von den unschuldigen Menschen deutscher Muttersprache zur Endzeit des unseligen Hitlerregimes und danach gebüßt. Nein, das kann und soll auch keine Entlastung für deutsche Missetaten kurz vor dieser Jahrhundertmitte sein, aber es könnte immerhin so manches Wiedergutmachungsopfer vom Gestank der Heuchelei befreien. Ja, es könnte ... wenn man die Opfer der Ost- und Südostdeutschen vor und nach Kriegsende zur Genüge kennen und in der Auseinandersetzung Vergeben und Versöhnen statt gekünstelter Opfertraumen entsprechend berücksichtigen würde.
Aber wer spricht schon davon? Die deutsche Presse der ersten Nachkriegsjahre ließ Gras über das Problem wachsen und in der Literatur fanden Vertreibung, Flucht, Deportation und Internierung deutscher Frauen, Kinder und Greise leider keine Zeiten überdauernde Ächtung, wie das gerechterweise mit dem schrecklichen Schicksal der Juden geschehen ist. "Donauschwaben? Nie gehört!" betitelte die MITTELBAYERISCHE ZEITUNG im November 1989 eine zweiseitige Reportage über die "fast vergessene Geschichte der Deutschen in Jugoslawien".
Man horcht daher unwillkürlich auf, wenn das von der deutschen Öffentlichkeit kaum noch wahrnehmbare (wegen unzureichender Information) Vertreibungsphänomen von vor 50 Jahren in einer Literatursendung angesprochen wird. Es war allerdings kein deutscher Autor, der am 14. Oktober 1995 in der 3sat-Sendung Buch total, direkt von der Frankfurter Buchmesse, das Wort Vertrieben in den Mund nahm, aber immerhin ein deutsch schreibender und sprechender.
Milo Dor, den Moderator Wolfgang Herles als literarisches k.u.k.-Produkt (in Budapest geborener Serbe, der in Wien lebt und schreibt) vorstellte, erklärte zum geschichtlichen Hintergrund der bosnischen Greueltaten, daß Tschetniks, Ustaschas und Partisanen im Zweiten Weltkrieg mehr Opfer untereinander zu verantworten hätten, als man der Besatzungsmacht zuschreiben könnte. Zu den vielen Menschenopfern, die der Zweite Weltkrieg in dieser südosteuropäischen Region forderte, zählte der Autor auch die vertriebenen Deutschen. Dieses Verbrechen schrieb er überwiegend den Partisanen zu.
Also doch! Deutsche Menschen mußten für Hitlers Wahn büßen. Milo Dor, der einen Abend später, in der Großen Buchnacht im Ersten (ARD, 15. Oktober 1995) wieder zu Wort kam und der aufmerksam lauschenden Menge enthüllte, "ich stamme aus dem Banat; mein Vater arbeitete in einer Temeswarer Brauerei und sprach alle banater Sprachen, ich war selbst als Kind mal in einem rumänischen Dorf und konnte rumänisch mit den Kindern herumpalavern", der serbische Literat mit "griechischer Großmutter", hat es nicht vergessen und ließ es auch die deutsche Öffentlichkeit wissen.
"Aber Elite sein und das Armenrecht beanspruchen wollen: das in der Tat ist faul." (Ulrich Greiner). Hören wir also endlich auf, die von der Geschichtslast ach so gebeugten Schuldopfer einer seit 50 Jahren besiegten Ideologie sein zu wollen. Geschichtsunbelastete Nächstenliebe ist jederzeit menschlicher als falsches Pharisäertum.

Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 5. November 1995

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen