Dienstag, 28. April 2015

Illegaler Grenzübertritt

- Ein Urlaubserlebnis von Mark Jahr -
Frau Armelt, deren Ferienwohnung wir seit einigen Tagen behausten, hatte uns den Tipp gegeben, mit einer Reisegesellschaft, die viel billiger als das örtliche Fremdenverkehrsamt sei, nach Holland zu fahren, um von dort aus die Nordsee kennenzulernen. Die redselige Schlesierin, die vom Oststurm der vierziger Jahre nach Norden verschlagen wurde und jetzt von den Meer- und Brisensehnsüchten der Binnenländer lebt, hatte für uns sparbewußte Aussiedlerfamilie die günstigste Land-See-Kombination ausfindig gemacht.
Leider stand unsere Reise von Norden nach Eemshaven unter keinem guten Stern. Wir mußten doch die Grenze passieren und unsere Kinder hatten keine Ausweise. Nachlässigkeit? Na vielleicht. Überall ist schon bekannt, daß man für eine Hollandreise nur noch einen Personalausweis benötigt. Unsere Kinder sind im Reisepaß meiner Frau eingetragen. Der lag aber zu Hause. Wir sind doch Europäer. Frau Armelt hatte zwar gesagt, das ginge auch mit einem Tagesvisum für die Kinder; trotzdem hatten wir ein ungutes Gefühl.
Eine Stunde vor der Abfahrt standen wir reisefertig vor der Ludgerikirche: die Kinder eine einzig große Vorfreude, wir mit dem Gedanken an die nichtvorhandenen Kinderausweise im Hinterkopf. Hatte Frau Armelt nicht in dem Zusammenhang das Fremdenverkehrsamt erwähnt? Warum warten bis zur Grenze? Wir hatten noch Zeit. Nach dem Stadtplan mußte es dort sein. Wir schritten den ganzen Marktplatz ab, ohne seine Sehenswürdigkeiten aufzunehmen, nur suchend. Dabei war es so einfach. Beim zweiten Anlauf fanden wir das Schild an dem einen der restaurierten Drillingsbürgerhäuser. Das wäre Sache des Rathauses, sagte uns die Frau an der Information. Zum Glück war das Rathaus nebenan. Der Pförtner schickte uns zum Einwohnermeldeamt. "Wenn Sie bei uns nicht gemeldet sind, können wir für Sie nichts tun", bedauerte ein junger Beamter. Ich hatte den Eindruck, daß er es ehrlich meinte. Statt freudiger Erwartung hatte sich Beklommenheit unser bemächtigt. Endlich fuhr der Bus von Jackreisen vor. Ich sagte dem Fahrer gleich Bescheid. Der winkte nur gelangweilt ab: "Die kontrollieren nur selten."
"Mein Gott, das auch noch: illegal über die deutsch-holländische Grenze?!"
Jetzt war's egal. Wir zahlten 5 DM pro Person. Der Spott in diesem Preis fiel uns erst später auf. Der Bus war auf der Reise. Es ging über Emden durch den Emstunnel zur Grenze. "Noch ein paar Kilometer." Dann war das blaue Schild mit der von zwölf EG-Sternen umrahmten Aufschrift "Nederland" da. Die Zollstation. Rechts parkten einige Lkws. Die Busse und Pkws fuhren geradeaus. Das Zollhäuschen. Es war leer. "Die machen Brotzeit", bemerkte unser Sohnemann sarkastisch. Mir war nicht zum Spötteln zumute. Der Bus fuhr langsamer, hielt aber nicht an. Weit und breit war kein Uniformierter zu sehen. Wir fuhren in Holland und plötzlich hatte ich den Kopf frei für die Landschaft. Meiner Frau ging es - sie konnte ihre Erleichterung nur schlecht verbergen - ebenso.
Heidelandschaft, die erfreulicherweise aber keine Horizontlinie zuläßt. Immer wieder brachten Baumgruppen Abwechslung für die weit schweifenden Blicke. Wer gut im Zählen ist, konnte zum Zeitvertreib auch Kühe zählen. Da war allerdings Ausdauer gefragt. Das Element Wasser gehört selbst im Landesinnern zum Charakter der Landschaft. Die Kanäle sind schnurgerade und man hat den Eindruck, ihr Wasserspiegel liege über der Landstraße. Nach sich senkenden Kanalschranken heben sich Brücken, um die kleinen Frachtschiffe passieren zu lassen. Dann tauchte der Damm in der Ferne auf. Dort schien die Welt am Ende zu sein. Das Festland ist es auch. Eemshaven, ein holländischer Hafen ohne Stadt. Wir gingen an Bord.
Ein Nieselregen trieb die Menschen in den Schiffsbauch. Die meisten von ihnen hatten kaum einen Blick für das Meer. Sie wollten bloß draußen, hinter Borkum, wo die See unruhig wurde, zollfrei Zigaretten und Spirituosen einkaufen. Ein Mann redete mich an, für ihn einen Karton Zigaretten zu kaufen. Mich interessierte das Schmuggelgeschäft nicht. Die Freude unserer Kinder, die den Regen und das Peitschen des Windes auf Deck genossen, war uns mehr wert. Bis zum zweiten Grenzübergang wollten wir keine neuen Spannungen. Wir kauften auch ein wenig, Risikomengen achtsam vermeidend, in dem bis Borkum versiegelten Supermarkt von dem zollfreien Angebot. Der Wind hatte an Stärke zugelegt. Meine Frau wollte schon immer einen ernsten Wellengang miterleben. Sie führte des öfteren die Hand zum Mund und nahm, dem Zorn Poseidons Anerkennung und Respekt zollend, tief Luft. Unser Sohn stand noch immer auf Deck und träumte in die Ferne. Unsere Tochter aber kuschelte sich bereits in Mamas Schoß.
Der Bus fuhr wieder in Richtung Deutschland. Derselbe Grenzübergang. Wir hatten die Zollbestimmungen nicht verletzt, brauchten also nichts befürchten. Nur die Kinderausweise irrten noch immer durch mein Unterbewußtsein. Die mir so vertraute Sorgenfalten auf der Stirn meiner Frau waren plötzlich wieder da. "Bundesrepublik Deutschland" im schon vertrauten EG-Outfit. Polizeiwagen standen an der Zollstation, aber weder Polizisten noch Zöllner waren zu sehen.
Während wir nordwärts durch die ostfriesischen Moor- und Geestdörfer fuhren, versuchte ich meinem Sohn zu erklären, daß er und seine Schwester soeben eine Staatsgrenze illegal überschritten und überfahren hatten. Der Bub sah mich verständnislos an. Er konnte die Begriffe Grenze und illegal nur mit Mühe assoziieren. Wir, seine Eltern, sahen uns lächelnd an und erlebten intensiver denn je das Glück "grenzenloser" Freiheit.

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 14./21 August 1994

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