Donnerstag, 22. Mai 2014

Eine bemerkenswerte Bilanz

181 Beteiligte beim Ostdeutschen Erzählwettbewerb

Am 21. Erzählwettbewerb der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (Herbst 1992) haben sich 181 Autorinnen und Autoren beteiligt. Das Thema "Grenzen überschreiten - zueinander finden" ermöglichte es, laut Georg Aescht, dem für Literatur und Kunst zuständigen Redakteur der Zeitschrift KULTURPOLITISCHE KORRESPONDENZ, einen repräsentativen Überblick über die Bemühungen zur literarischen Aufarbeitung jüngerer und jüngster Vergangenheit zu gewinnen.
Die fünf preisgekrönten Arbeiten stammen von Frauen und Männern zweier Generationen, die den trennenden Charakter von Grenzen gleichsam schmerzlich empfunden haben, und das über viele Jahrzehnte hinweg, bis in unsere Gegenwart, in der Mauern und Zäune zwar fallen, geistige Stachel aber eine endgültige Annäherung der Menschen aus verschiedenen Regionen weiterhin verzögern.
Johannes Birringer, 1953 in Schmelz/Saarland geboren, der zur Zeit eine Professur für Angewandte Theaterwissenschaft an der Northwestern University/Chicago versieht, versucht in seinem Brieftext "Grenzland" die Impressionen eines Berlinbesuches aus zeitlicher und geographischer Entfernung zu verarbeiten; ein nicht problemloses, aber letztendlich literarisch gelungenes Unterfangen, das durchaus ein Nachdenken über die Bedeutsamkeit eines Deutschlandbildes im Ausland beim Leser auslösen kann. "Die Zweiheit Deutschlands war mir nur theoretisch bewußt, trotz meiner frühen Besuche in Berlin, der Augenblicke der Mauerschau, in denen man, wie im klassischen Theater, von den entscheidenden Szenen der Tragödie, dem Schlachten, dem Morden, dem Inzest, dem Verrat, nur durch Berichterstattung erfährt."
"Heimkehr nach Sirmio" nennt Edith Hartmann, 1927 in Karlsbad geboren, ihren Heimatbesuch. Vergeblich versucht die auch als Grafikerin und Illustratorin tätige freiberufliche Schriftstellerin die Stadt ihrer Kindheit in ein 45 Jahre lang von ihrer Erinnerung geprägtes Bild zu zwängen. Sie fällt bald um. Die Realität ist stärker: "Ich brauche nur die Stadt, die all' mein Kindsein birgt, die Stadt, die, und sei sie auch im Aschenbrödelkleid, für mich die schönste ist und bleibt: Karlsbad. Nun habe ich ihren wirklichen Namen genannt und sie aus Erinnerung und Sehnsucht in die Gegenwart gedrückt." Das Schöne an dieser Rückkehr ist, daß die neu gewonnenen Eindrücke sich mit der alten Liebe vereinen und eventuelle Ressentiments im Keim ersticken. "Das Elternhaus meines Vaters steht noch. Kein Großvater, keine Großmutter kann kommen, kein Onkel, keine Tante und keiner meiner Cousins, um mich zu begrüßen. Aber es sind freundliche Menschen, die auf uns zukommen und sich freuen."
"Die Nacht". Diese Erzählung hätte man eher einem Vertreter der Kriegsgeneration zugetraut. Sie wurde aber von einem Mann geschrieben, dem das Geschehene seiner Erzählung noch selbst hätte widerfahren können. Günter Hein wurde 1942 in Schweinfurt geboren. Er begleitet in Oberwerrn das Amt des Studiendirektors. "Die Nacht" beginnt verhängnisvoll, wie alles, was vom Krieg verursacht wurde, aber sie endet nach einer knisternden Spannung mit einem erleichterten Aufatmen des Lesers. Allerdings erlebt man hier nicht das übliche Happy End eines Kitschromans, sondern man fühlt die Beruhigung über die gewonnene Erkenntnis, daß der Krieg doch nicht alles Menschliche im Menschen zerstören kann.
So viel Vergangenheit wurde in der Literatur aufgearbeitet. Die schier unermeßbare Bandbreite der Gefühle von Menschen in Extremsituationen, die durch Gewalt und Todesangst entstehen, hat zum Teil in der Literatur dieses ausklingenden Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen. Die größte Hochachtung gebührt dabei wohl jenen Schriftstellern, die den Versuch nicht scheuten, die Seelen der Kinder, die unmenschlichen, von ihnen rational nicht erfaßbaren Gewalttaten ausgesetzt sind, zu ergründen. Rita E. Langel hat den Versuch in der Erzählung "Wer kennt schon den Augenblick" erfolgreich unternommen. Die Autorin erblickte im Jahre 1947 in Bayern das Licht der Welt. Möglicherweise ist es ihr Alter/ihre Jugend, das/die dafür verantwortlich ist, daß es am Schluß der Erzählung trotzdem heißt: "Sie kennen beide das Trennende ihrer Jahre, treffen  sich im Wort, betreten Niemandsland, neutrales Gebiet, überschreiten ihre Grenzen, setzen den Fuß auf bekanntes Terrain, auf gemeinsamen Grund und Boden. Sie lachen."
Teil unserer jüngsten Geschichte ist zweifellos der oft tödliche Versuch Deutscher, die deutsch-deutsche Grenze physisch zu überwinden. Die 1923 in Eberswalde bei Berlin geborene Eva Zeller, Mitglied  des deutschen PEN-Zentrums, der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Mainz, hat sich in der Erzählung "Potsdamer Platz" dieser Tragik angenommen. Wer diese Geschichte liest und sich so seine Gedanken darüber macht, wird wohl oder übel zu der Einsicht gelangen, daß es eine gerechte Aufarbeitung dieser Problematik nie, und wenn doch, nur in Einzelfällen, geben kann. Zu unterschiedlich sind die Konturen zwischen Opfer und Täter. Während die einen klar und deutlich erkennbar sind, werden die anderen immer verwischter und undeutlicher.
Die Zeiten des sichtbaren Grenzniedergangs sind angebrochen. Wir haben das Glück, ihre Zeugen zu sein.
Mark Jahr
aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 10. Oktober 1993

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