Montag, 10. Juni 2013

Unsere Lobby

Ein sterbendes Volk wird von den Medien entdeckt
"Wir haben keine Lobby". - Wer von uns hat diesen stets schlußfolgernden Seufzersatz nicht schon mal gehört oder auch selbst ausgesprochen? Wie wahr oder wie unwahr er ist, wird objektiv wohl kaum abwägbar sein. Wie berechtigt oder unberechtigt er in die Diskussionen einfloß und auch weiterhin wohl einfließen wird, kann jeweils nur von den persönlichen Standpunkten der Diskutierenden her betrachtet werden.
Wenn das Wort "Lobby" die Gesamtheit der Lobbyisten bezeichnet, so müssen wir uns ihnen zuwenden. Lobbyist ist jemand, der Abgeordnete für seine Interessen zu gewinnen sucht. "Wir haben keine Lobby". Also wir haben niemand, der für unsere Interessen und unser Erscheinungsbild wirbt.
Unwahr, muß man feststellen, wenn man die Aktivitäten der Landsmannschaften der vergangenen 40 Jahre unter die Lupe nimmt. Da hat es an Werbung für die eigene Sache und derer, die noch "unten waren oder sind", nicht gefehlt. Daß hier eine weiterführende Diskussion über Qualität und Sinn dieser (oder nur einzelner) Veranstaltungen unbeschränkt viel Raum für subjektive, ja sogar ideologische Argumentationen eröffnet, sollte eigentlich vom Grundkonsens aller landsmannschaftlichen Aktivitäten nicht ablenken: das Werben für Verständnis und Akzeptanz eines sterbenden Volksstammes.
Wahr, wenn man berücksichtigt, daß das Sterben der Donauschwaben bereits durch die Trianoner Beschlüsse begann, ja von ihnen sogar eingeleitet wurde, ohne daß die Weltöffentlichkeit davon Notiz nahm. Jenes Jahr 1920 brachte den ersten schweren Schlag für die kulturelle und wirtschaftliche Einheit der deutschen Diaspora in Südosteuropa. Der Sturz des kommunistischen Diktators Ceauşescu im Dezember 1989 brachte das endgültige Aus für die letzten Bastionen habsburgischer und damit verbunden reichsdeutscher (18. Jahrhundert) Geschichte. Das waren 70 Jahre langsamen Sterbens in Form von Deportation (Jugoslawien, Rumänien, Ungarn), Vernichtung in Konzentrationslagern (Jugoslawien), Vertreibung (Jugoslawien, Ungarn) und Auswanderung (Rumänien). Das Aussterben der Donauschwaben und der Siebenbürger Sachsen, die einzigen Relikte deutscher Geschichte in Fleisch und Blut, blieb im unheimlichen Schweigen, daß nach 1945 über Europa lag, unbemerkt.
Nach dem gesellschaftlichen Urknall in Osteuropa stieg das Interesse für die Deutschen in Rumänien schlagartig an. Plötzlich wurde auch das Todesröcheln der Banater Schwaben wahrgenommen. Das ist, Gott sei Dank nur nebenbei, auch dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Oskar Lafontaine, zu verdanken. Zum Glück sind es aber nicht dessen Deutschtümelei-Theorien, die sich in der Öffentlichkeit durchgesetzt haben, sondern eher die sachlichen, geschichtlich und auch geographisch zwar nicht immer einwandfreien, aber von unvoreingenommenen Informationsabsichten zeugenden Kommentare in den deutschen Medien.
Die Banater Schwaben bringen in ihrem Auswanderungsgepäck nicht nur ihre letzten und liebsten Habseligkeiten mit. Ihr Schicksal beendet das Sein des Volksstammes der Donauschwaben im geographischen Raum, den ihm die europäische Geschichte zum Werden, Leben und Vergehen zugewiesen hat. Noch nie wurde das Ende eines deutschen Volksstammes so bewußt erlebt wie jetzt. Man will dabei sein, denn es geht letztendlich nicht nur um ein grandioses Spektakel, sondern man verspürt plötzlich die Faszination des Entdeckens. Da reift ein neues Bewußtsein. Nur 1000 km südöstlich von uns - einst sehr weit, heute nur ein paar Autobahnstunden entfernt - existierte zweieinhalb Jahrhunderte lang ein deutscher Volksstamm und wir wußten kaum etwas von ihm. Schnell hin und auf Filmband festhalten, was noch erkennbar ist.
Während in den ersten Monaten nach der Wende in Rumänien noch die Berichte über die miserable soziale Lage der rumänischen Bevölkerung und über die exotischen Zigeuner überwogen, wendeten sich die Berichterstatter der Fernseh- und Rundfunkanstalten langsam aber sicher dem Problem der Deutschen in Rumänien zu. Freilich hat die uneingeschränkt positive Haltung einiger Bonner Würdenträger - Kohl, Schäuble, Genscher können nur stellvertretend für viele genannt werden - zu diesem Wandel entscheidend beigetragen.
Als ein Höhepunkt der Berichterstattung über die Geschichte der Donauschwaben kann man den am 15. Juni im ARD-Programm "Nachbarn" (13.30 Uhr) gesendeten Film "Der letzte Schwabenzug" bewerten. Die Besiedlungsgeschichte des Banats mit seiner Hauptstadt Temeswar wird anhand einer Landkarte und mit Stefan Jägers Einwanderungstryptichon anschaulich dokumentiert. Mit den Bildern aus Jahrmarkt, dem Dorf, das baulich wohl die bemerkenswertesten Umwandlungen vom alten österreichischen Barockstil zu einem neuen, den Bedürfnissen der Zeit angepaßten Dorfhaus durchgemacht hat, kommt man schnell dem Schwerpunktthema, das die Autoren sich gesucht haben, näher: der Zerfall des deutschen Erbes in diesem Dorf und im ganzen Banat.
Das menschliche Drama der Auswanderung kommt in diesem Film voll zur Geltung. Die Worte des alten Pfarrers Josef Czirenner, der seine Hand auf der Quelle des Prinz-Eugen-Brunnens wie auf einem schützenswerten Symbol donauschwäbischer Urbarmachung ruhen lässt, enthalten den unsagbaren und von Außenstehenden kaum nachvollziehbaren Schmerz, den das Auflösen einer bislang intakten Dorfgemeinschaft mit sich bringt: "Da war Leben. Frosinn war in der Gemeinde, Glück und Zufriedenheit. Schade, daß die Ruinen nur mehr da sind und die Menschen, die damals so glücklich waren, das alles aufgebaut haben, sie sind fort. Doch die Ruinen sind geblieben. Es war ein Stück Heimat. ... Wir sind verschwunden, am aussterben. ... Es ist vorbei. ... Es ist schade, daß gerade die letzten da so viel leiden müssen. ... Wir gehen zugrunde, seelisch."
Das Schicksal vieler zurückgebliebener, alter Menschen ist sehr schwer. Das Deutsche Forum versucht den gegebenen Verhältnissen entsprechend zu helfen. Leicht ist das nicht, denn Neid und Antisemitismus machen den Deutschen schwer zu schaffen.
Das Wirken der katholischen Kirche kann nur noch in Temeswar und wenigen größeren Ortschaften aufrechterhalten werden. Bischof Sebastian Kreuter: "Dort (A. d. V.: in den ehemals deutschen Gemeinden) bleibt nichts anderes übrig, als diese Kirchen den Orthodoxen zu übergeben, damit sie sie instand halten. Das tut uns wohl weh, aber die Frage ist nicht anders zu lösen."
Im Deutschen Theater Temeswar verlieren sich wenige Zuschauer, in ihren Mänteln vereinsamt und vergessen aussehend. Ildicko Jarcek Zamfirescu versucht das Noch-Bestehen dieses Hauses zu rechtfertigen.
Die Lenau Schule ist nur noch vom Namen her eine deutsche Schule. Die deutsche Schule von Gottlob wird nur von vier Kindern besucht, die von einer Kindergärtnerin betreut werden. 
Die Bodenreform ist eine Farce, die dem urigen Humor des bäuerlichen Überlebenskünstlers Hans Tittenhofer aus Gottlob Geltung verschafft: "Ja, 10 Prozent (A. d. V.: von seinem Feld) werden wir vielleicht zurückbekommen. Aber wann das ist, weiß man noch nicht, ob im Sommer oder im Herbst. Feld bekommen zuallererst die 5-Hektar-Bauern. Und nach den 5-Hektar Bauern, so han mer gsagt, des ware die mit dem Titel, die han s'erscht gholl vun de Schwowe, net?, un dann bekommen wir auch. Aso, die sin immer die erschte. Die haben s'erscht bekommen im 45 un die bekommen wieder s'erscht. Un wenn noch was bleibt bekommen wir auch... Im 45 war ich 15 Jahre alt. Dann, wie die komme sind und uns alles weggenomme hab'n, hab ich gar net gwußt, was wolle die? Da bin ich zu mei'm Vatter glaufen: 'Schau. die werfn uns den Stroschuwer um un de Laubschuwer. Was machen die denn da in dem Hof? - 'Ja', sagt der, 'des is die reforma agrară. Die nehmen nur dem, der wu was hat. Der wu nicks hat, dem kann mer nicks wegnehme.'"
Die Maiers und Köstners aus Wolfsberg in 1000 m Höhe reisen aus. Die Fernsehkameras sind dabei. Sie zeichnen alles auf. Sie wenden sich auch nicht ab, wenn die Gefühle hemmungslos aus den Herzen brechen. Schockierend wirkt der Kontrast: deutscher Abschied - rumänische Hochzeit. Aber die Symbolik dieser Bilder steht wohl oder übel für die geschichtliche Unumkehrbarkeit der deutschen Auswanderung aus Rumänien.
"Der Ausflug der Rumäniendeutschen in die europäische Geschichte scheint beendet."
Ein Zug fährt über die endlose Heide gegen Westen: "Banat - Der letzte Schwabenzug".
Ein preisverdächtiger Dokumentarfilm ist zu Ende. Wir verdanken ihn Helga Höfer und Michael Ament, die für die Regie zeichnen, Jochen Dorchholz, Kamera; Stefan Hartmann, Ton; Christine Süss, Schnitt; Klaus Schumann, Mischung; Julia Fischer, Sprecherin; Michael Ament, Redaktion. Eine Sendung des Bayerischen Rundfunks. 1991.
Helga Höfer hat durch diesen Film nicht nur ihrer Banater Heimat ein Denkmal gesetzt. Sie hat vielen am Auswanderungsdrama Unbeteiligten in die Seele gesprochen, was aus den Seelen der unmittelbar Beteiligten spricht.
"Wir haben eine Lobby." Die Tragik liegt in ihrem späten, viel zu späten Erwachen. Wäre sie in den Jahrzehnten des kalten Krieges da gewesen, hätten viele Deutsche für das Aussiedlerproblem eine andere Verständnisbereitschaft entwickelt.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 11. August 1991

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