Montag, 29. April 2013

Unbewältigt: Vergangenheit und Gegenwart

Gedanken zum Theaterstück "Die Aussiedlerin" 
Regie: Thomas Wenzel
Die Berliner Compagnie ist eine Theatergruppe aus Berlin-Kreuzberg, die sich dem zeitkritischen Theater verschrieben hat. Das Ensemble spielt seit 1982 seine Stücke in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich Luxemburg, in der Schweiz und in den Niederlanden.
Am 14. März 1991 gastierte die Truppe mit dem Theaterstück über Arbeitslosigkeit, Fremdenhaß und die neue nationale Begeisterung (so der Untertitel) "Die Aussiedlerin" von Gerhard Fries (der auch die Rolle des Dr. Alfred Überle übernommen hat) in Ingolstadt.
Heiliger Abend im Wohnzimmer der Familie Klonz. Mutter Sophie ist von den traditionellen Stationen dieses Tages in Anspruch genommen: das Essen, der Kirchgang, die Sorge um das Wohlergehen der Kinder. Evelyn, die Tochter, hat just an diesem Tag den berühmten Filmemacher Wilhelm Babek kennengelernt. Sie bewundert ihn und hat ihn eingeladen, ganz altruistisch an ihren Bruder Dieter, ein verträumter Gerneschauspieler, denkend. Als Gast weilt Miriam Walanjuk aus Polen bei Familie Klonz. Sie ist erst gekommen, hat ihre Papiere noch nicht in Ordnung, will bleiben.
Das Warten auf den großen Wilhelm Babek verdrängt die christlich-festliche Bedeutung des Abends. Die persönlichen Probleme verschwinden in der Spannung. Miriam, die Aussiedlerin, bleibt  mit ihren Problemen und Gefühlen allein. Wilhelm Babek beherrscht in seiner Abwesenheit die Szene. 
Die Hausglocke läutet. Es kommt... Dr. Alfred Überle. Der Vertriebenenfunktionär kennt sich in Volkszugehörigkeitsproblemen aus. Er ist ein alter Freund der Familie. Gemeinsame Vergangenheit in einer verlorenen, aber nie aufgegebenen Heimat hielt die Beziehung über Jahrzehnte aufrecht. Der Dialog schafft schnell Klarheit.
Evelyn ist ungeduldig und unbeherrscht. Dieter verkennt in seiner Karrieresucht die Zuneigung Miriams. Dr. Überle ist aufdringlich, allwissend, gerechtigkeitsbesessen. Die Mutter wirkt unsicher, will Weihnachtsatmosphäre retten. In diesem Chaos von Gefühlen und Interessen wirkt Miriam, die Aussiedlerin, immer hilfloser.
Er ist noch immer nicht da, der erfolgreiche Regisseur Wilhelm Babek. Die Hausglocke. Evelyn schnellt wie eine Feder... Hans Pletschak kommt. Frau Klonz hatte ihn eingeladen. Er mäht gelegentlich den Rasen. Er ist jetzt nicht in seiner Neonaziuniform, sondern in dem grünen Anzug, der ihm zu klein ist und nicht zu dem kahlgeschorenen Kopf passen will. Seine Sprache ist rudimentär, voller Invektive, einer ausländerfeindlichen Gruppenideologie entsprungen: Er selbst ist ein Sklave eingetrichterter dogmatischer Parolen. Und doch ist auch er gegen Gefühle nicht gefeit. Er scheint Sympathien für die Aussiedlerin, für ihn die Polin, zu entwickeln. Dr. Überles Recherchieren in Miriams Volkszugehörigkeitsberechtigungen oder -nichtberechtigungen kann er geistig kaum folgen.
Dieser bohrende Ewiggestrige, der selbst die Vertreibungsnöte längst vergessen hat und vom Vorsitz eines neuen deutschen Vereins träumt, spitzt den Konflikt weiter zu. Er spricht Miriam das Recht auf die deutsche Volkszugehörigkeit ab. Die Aussiedlerin spürt, daß menschliche Erwägungen in dem von Dr. Überle makaber inszenierten Prozeß endgültig auf der Strecke bleiben. Akten und Paragraphen haben sie als Ausländerin überführt. Fremdenhaß schlägt ihr entgegen. Trotzgefühle werden wach. Die Aussiedlerin kämpft. Sie greift auf alte Briefe zurück und entlarvt Dr. Überle als Kriegsverbrecher. Der in die Enge getriebene Rechtfertigungskünstler schlägt mit Beschuldigungen um sich. Er braucht Mitschuldige und klagt Frau Klonz der Mitwisserschaft am Auschwitz-Drama an. Die kränkliche Frau ist der Auseinandersetzung nicht mehr gewachsen und stirbt unter der Last der sinnlosen Anklage.
Es läutet. Endlich. Wilhelm Babek kommt. Der Berühmte zieht alle in seinen Bann. Die Anwesenheit der Toten wird sekundär. Der Regisseur sucht Darsteller für eine neue Produktion. Die Chance, Filmkarriere zu machen, erdrückt die Gefühle, mordet selbst die Ehrfurcht vor dem Tod. Wilhelm Babek ist ein ruchloser, skrupelloser, mieser Spieler, Produzent von pornographischer Subkultur. Er braucht Kriechtiere, denkunfähige Statisten. Er findet sie hier in dieser Runde. Um Karriere zu machen, lassen sie sich entwürdigen, alle: Evelyn Klonz, Dieter Klonz, Hans Pletschak, Dr. Alfred Überle... Fast alle: Miriam Walanjuk, die Aussiedlerin, bewahrt ihre Würde. Sie bleibt Mensch in ihrer Not und verlässt angeekelt, aber mit erhobenem Haupt eine Runde, in der an diesem verhängnisvollen Heiligen Abend Repräsentationsfiguren nicht bewältigter Vergangenheit und menschlicher Werte entbehrender Gegenwart zusammengefunden hatten.
Ein ebenso tragisches wie mutiges Finale löst keinesfalls den Konflikt des Stückes. Es beauftragt den Zuschauer, sich mit der besonders für übereifrige Nationalapologeten, die selbst in Aussiedlern nur das Fremdartige erkennen, sehr brisanten Frage zu beschäftigen: Tragen Aussiedler unerkannte Werte in ihrem Gepäck, die unserer vorwiegend an Leistung und Anerkennung orientierten Gesellschaft bereits abhanden gekommen sind?
Einer spürbaren Betroffenheit nach dem letzten verklungenen Wort folgte langanhaltender Beifall. Vor dem einfachen, aber aussagekräftigen, einen rötlich schimmernden Wolkenhimmel darstellenden Bühnenbild haben die Zuschauer ein bewegtes Schauspiel erlebt. Die Aktualität des Themas ließ dramaturgische und darstellerische Schwachpunkte des Stückes als kaum wahrnehmbare Begleiterscheinungen gelten.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 30. Juni 1991

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen